Verschwommene Grenzen im Nordkosovo
Durch den Gazivodasee verläuft die Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Beide Länder befinden sich in einem jahrzehntelangen Konflikt, der auch in die Verwaltung des Sees einfließt. SOPHIA BEITER sprach mit LJUBIŠA MIJAČIĆ über unterschiedliche Zukunftsszenarien.
Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.
Im glasklaren Wasser des Gazivodasees (albanisch: Ujëmani See) spiegeln sich sanfte Hügel, die zu sandigen Badebuchten abfallen. Hier und da tuckert ein Fischerboot vorbei. Der Stausee ist ein beliebtes Erholungsgebiet. Im Sommer entfliehen hier viele Einwohner*innen der nahegelegenen Stadt Mitrovica dem urbanen Lärm. Doch hinter der idyllischen Fassade schwelt ein jahrzehntelanger Konflikt: Der bis zu 100m tiefe und 22km lange Stausee liegt zu 80% in der kosovarischen Gemeinde Zubin Potok. Im Norden erstreckt sich das Gewässer über die Grenze in die serbischen Gemeinden Tutin und Novi Pazar. Für Serbien, das den seit 2008 unabhängigen Staat Kosovo nicht anerkennt und als autonomes Gebiet innerhalb der eigenen Grenzen betrachtet, ist der See zur Gänze auf serbischem Territorium. Doch Kosovo, dessen Bevölkerung und Industrie stark von der Wasserzufuhr aus dem See abhängig sind, erhebt ebenso Ansprüche auf das Grenzgewässer. So wird der Gazivodasee – einst symbolisch für jugoslawische »Brüderlichkeit und Einheit« – ein Monument der umgekehrten Art.
Der Norden Kosovos wird großteils von der serbischen Minderheit bewohnt, was das Gebiet zum Hauptschauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Belgrad und Priština macht. Bis heute gelingt es dem Kosovo nicht, die nordkosovarischen Gemeinden zu integrieren. Gleichzeitig sehen serbische Politiker*innen die Serb*innen in der Region von der ethnisch albanischen Mehrheit im Kosovo bedroht. Ljubiša Mijačić, selbst Serbe aus dem Nordkosovo, berichtet von einer zunehmend angespannten Lage. Der Umweltspezialist, der sich seit Jahren mit dem See beschäftigt, sagt: »Seit dem Herbst 2022 wird die Region zunehmend militarisiert.« Bereits davor kam es im Streit über Ausweisdokumente und Nummernschilder zu Straßensperren nahe des Gazivodasees.
Unklare Zuständigkeiten
Auch der See selbst wird oft zum Streitthema. Der Damm am Fluss Ibar wurde 1977 errichtet. »Die Idee dahinter war, die wirtschaftliche Entwicklung der industriell schwachen Provinz Kosovo voranzutreiben. 1984 wurde ein Kanal gebaut, der das Wasser ins Zentrum des Kosovos lenkt«, erzählt Mijačić. 11km2 Land wurden im Zuge der Errichtung geflutet, über 2000 Menschen mussten umgesiedelt werden.
Die Verwaltung des Sees übernahm die von der autonomen Provinz Kosovo geführte Firma Ibar Lepenac. Doch mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens und der darauffolgenden Unabhängigkeitserklärung Kosovos geriet diese in Kosovos staatliche Hand – ein Staat, den Serbien bis heute nicht anerkennt. Daraufhin gründete Serbien die JP Ibar zur Verwaltung des Sees. »Die Firmen erkennen sich gegenseitig nicht an und beanspruchen jeweils die Verwaltung des Sees für sich«, erläutert Mijačić. In der Realität betreut Ibar Lepenac jedoch nur den Kanal und verdient somit an der Belieferung kosovarischer Unternehmen mit Wasser. Darüber hinaus versorgt sie rund 200.000 Kosovar*innen mit Trinkwasser. JP Ibar kümmert sich um die Instandhaltung von See und Damm. Dadurch schafft die Firma Arbeitsplätze im Nordkosovo, generiert allerdings kaum Einnahmen und muss sich auf die finanzielle Unterstützung Serbiens verlassen. »Von wem soll JP Ibar Geld verlangen? Die kosovarischen Firmen, die das Wasser erhalten, erkennen weder den serbischen Dinar als Zahlungsmittel noch die Firma selbst an«, sagt Mijačić.
Kosovo besitzt wenige alternative Wasserressourcen. »Es gibt kaum Niederschlag und keine anderen großen Flüsse, die zur industriellen Wasserversorgung genutzt werden.« Das mache das Land abhängig vom Gazivodasee. »Wenn die Wasserversorgung aus dem See gestoppt oder reduziert würde, käme die Industrie im Kosovo zum Erliegen«, stellt Mijačić fest. Auch wenn so ein Szenario unwahrscheinlich sei, sollte die regionale Verflochtenheit über den Fluss Ibar nicht unterschätzt werden. Dieser entspringt in Montenegro und fließt nach Serbien, wo er bei Ribariće den Stausee befüllt. Von dort fließt der Ibar im Kosovo weiter Richtung Mitrovica und anschließend zurück nach Serbien. Zieht Kosovo mehr Wasser aus dem See zur eigenen Versorgung, hat das Auswirkungen auf den Rückfluss nach Serbien. Beschließt Serbien aufgrund von Investitionen im Industriesektor am oberen Teil des Flusses mehr Wasser abzuzweigen, würde Kosovo darunter leiden.
Umweltschutz als Ansatzpunkt
Wassermangel wird in Zukunft aber auch ohne diese Interventionen zum Problem. Die Folgen des Klimawandels machen sich bereits bemerkbar. »Es braucht Schnee im Winter, um die Wasserkapazität im Frühjahr zu erhöhen. Andernfalls gibt es im Sommer Niedrigwasser«, erklärt Mijačić. Der letzte Winter zeigte wiederum, dass auch zu viel Wasser problematisch ist. Aufgrund der milden Temperaturen regnete es im Jänner sehr stark. »Seit Bestehen des Staudamms gab es nie so viel Druck auf den Damm. Die Schleusen mussten geöffnet werden, das Tal wurde geflutet. Zahlreiche Häuser waren von der Überschwemmung betroffen.« Hinzu komme Wasserverschmutzung, insbesondere des Ibar im Kosovo. Das Wasser aus dem Gazivodasee ist sauber. Bei Mitrovica mündet jedoch der Nebenfluss Sitnica in den Ibar und mit ihm Abwässer von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft. In diesem Zustand fließt der Fluss schließlich zurück nach Serbien. »Umweltbelastungen bergen Gefahren für Wirtschaft und Gesundheit. Das verursacht Konflikte«, meint Mijačić. Eine verbesserte Zusammenarbeit von Serbien und Kosovo sei deshalb unabdinglich.
Doch wo setzt Kooperation in einer so nationalistisch aufgeladenen Situation an? Mijačić sieht Potential beim Umweltschutz: »Um den Dialog zu starten, sollte mit etwas begonnen werden, bei dem keine Seite die Vorherrschaft an sich reißt.« Er hat auch eine Idee, die den Verband serbischer Gemeinden im Nordkosovo involviert. Der EUVorschlag zu diesem Gemeindeverband, der seit 2013 diskutiert wird, aber bisher nicht umgesetzt wurde, umfasst eine stärkere Selbstverwaltung der mehrheitlich serbischen Gemeinden im Kosovo. Die Gemeinde Zubin Potok, in dem der Gazivodasee liegt, würde ebenfalls Teil dieses Gemeindeverbandes werden. Da der Ibar in die Morava mündet und diese schließlich in die Donau fließt, sei die Sauberkeit des Flusses auch mit der Wasserqualität der unteren Donau verbunden. »Kosovo ist im Gegensatz zu Serbien allerdings nicht Teil der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD), da einige Mitgliedstaaten der Initiative die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennen. Die Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes wird allerdings von allen unterstützt«, betont Mijačić. Daher könne eine vom serbischen Gemeindeverband verwaltete Umweltabteilung – beauftragt von der kosovarischen Regierung – womöglich Teil der IKSD werden. »Damit hätte Kosovo Zugang zu Informationen, um Umweltschäden vorzubeugen.« Zudem wären die Kosovo-Serb*innen in die Verwaltung des Sees eingebunden, was ihre Integration innerhalb Kosovos begünstige. Das verringere das Risiko, dass Serbien mehr Wasser vom Ibar abzweigt. Denn dann müsste Serbien nicht nur mit dem Widerstand von Kosovo-Albaner*innen, sondern auch von den Serb*innen im Kosovo rechnen. Auch wenn es naiv klinge, laut Mijačić bestehe dadurch eine Chance, dass »die Serb*innen im Nordkosovo zu Hüter*innen des Wassers für die KosovoAlbaner*innen werden.«
Trübe Aussichten
Die Umsetzung solcher Vorhaben bleibt aber schwierig. Die nationalistischen Narrative seien zu festgefahren und es gebe keine öffentliche Debatte über den See. Mijačić folgert: »Zusammenarbeit wurde nie versucht.« Trotzdem gibt er die Hoffnung auf eine Zukunft mit gemeinsamen Zielen nicht auf – denn die zunehmende Wasserknappheit wird die Region weiter unter Druck setzen. Er weiß: »Es ist im besten Interesse von Belgrad und Priština Mechanismen der Zusammenarbeit zu schaffen. Und das am besten schon gestern.«
Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und ethnische Minderheiten.
Ljubiša Mijačić beschäftigt sich mit der Wassersicherheit im Kosovo und entwickelte Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserressourcen im Rahmen der interethnischen Versöhnung. Seine Vorschläge präsentierte er Stakeholder*innen des Belgrad-Priština-Dialogs.