Parliamentary Elections in Belarus 2024
Read the briefing by Kamila Bogdanova here:
The whole discussion will be available on the YouTube channel of the IDM:
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In an interview for Eurasia Diary English, Malwina Talik (IDM) explained why she finds opening of a new front in Poland unrealistic under current circumstances and how Poland perceives incidents at the border to Belarus.
Déjà-vu or a breakthrough?
The Status Quo and the Future Prospects of Belarus
4 May, 17:00 CEST
An IDMonSite-interview with Katsiaryna Shmatsina moderated by Malwina Talik
in the framework of the event series
“70 Years of the IDM – Locating the Future”
Belarus’ nation-wide demonstrations against “the last dictator of Europe” in 2020 raised hopes for a democratic turn in the country. After the regime’s brutal response, political opponents, activists and critics faced a choice between persecutions or exile. Among those who had to flee the country was Katsiaryna Shmatsina, the guest of the IDMonSite. In a conversation with Malwina Talik (IDM) she analysed the situation in Belarus in the aftermath of the crackdown, the reasons for the endurance of Lukashenko’s regime, the impact of the Russian invasion of Ukraine on Belarusian society and the international standing of the country. The interview addressed the questions of the future of Belarus under the current circumstances and some less obvious positive developments that could turn the tide.
Katsiaryna Shmatsina is a Belarusian political analyst and a PhD Fellow at Virginia Tech University (Washington, DC), focused on critical geopolitics and security studies.
In einem verlassenen Bunker außerhalb der belarussischen Hauptstadt Minsk tanzen sich rund ein Dutzend Jugendaktivist*innen den Schweiß von der Stirn. Auf der Wand ist ein Graffiti mit der Aufschrift »PLUR« – Peace, Love, Unity, Respect. Es ist das Rave-Äquivalent zu den Zehn Geboten. Inmitten von Partylicht und Rauch taucht plötzlich ein Kommando der SOBR auf, eine Spezialeinheit der belarussischen Polizei. Sie kommt in voller Montur und mit Drogenspürhunden. So schildert Piotr Markielau diesen Freitagabend im Jahr 2018. Zusammen mit Freund*innen gründete er Legalize Belarus, eine lokale Organisation zur Reform der Drogenpolitik im Land. Die Polizei fand an diesem Abend keine Drogen. Vielmehr bewerteten Markielau und andere die Razzia als Versuch, pro-demokratische Aktivist*innen einzuschüchtern.
Anfang der 2010er Jahre wurden die sogenannten »Legal Highs« zu einem weit verbreiteten Phänomen. Dabei handelt es sich um synthetische Substanzen, die die Wirkung illegaler Drogen nachahmen sollen. Sie werden oft als Badesalze, Lufterfrischer oder Reinigungsmittel verkauft. Da die Substanzen meist nicht in Betäubungsmittelgesetzen erwähnt werden, sind sie zwar nicht illegal, aber deswegen kaum weniger gefährlich. Als Antwort auf ihre Verbreitung in Belarus errichtete der Diktator Aljaksandr Lukaschenka neue Arbeitslager und prahlte in einer Fernsehansprache damit, dass die Inhaftierten »darum beten werden, zu sterben«. Familienangehörige bezeichnen sie »Vernichtungsanstalten«. 2020 waren mehr als 12,000 Menschen in ihnen inhaftiert, die meisten wegen geringfügigen Drogenbesitzes, Artikel 328. Das geben zumindest ihre Mütter an, die sich in der Bewegung Mütter 328 zusammenschlossen. Die Strafen sind brutal, schon eine kleine Menge Marihuana kann zu neun Jahren Gefängnis führen. Jugendliche im Alter von 14 Jahren werden zu acht Jahren in Strafkolonien verurteilt, junge Erwachsene zu zehn Jahren oder mehr. Eigentlich dürften nur Dealer*innen strafrechtlich verfolgt werden. Doch wenn zwei Freund*innen beim Rauchen eines Spliffs erwischt werden, wird eine*r von ihnen wegen Beschaffung angeklagt.
Florierender Schwarzmarkt
Was das Regime dabei zu vergessen scheint: Es ist gerade die autoritäre Politik in Belarus, die junge Menschen zu illegalen Drogen greifen lässt, insbesondere Marihuana und neuartige Aufputschmittel. In der selbsternannten letzten Diktatur Europas »greifen die Leute zu Drogen, um der Realität zu entkommen«, sagt Markielau. »Die Situation in Belarus ist schrecklich, das Regime lässt sich mit dem Stalinismus vergleichen. Die Menschen sind deprimiert und die Gehälter sind niedrig. Alles ist grau, und immer mehr gehen weg.« Die klassischen Dealer*innen gibt es in Belarus aufgrund des Polizeistaates nicht wirklich, aber der Schwarzmarkt findet seine Wege. Einfache, dennoch hochtechnologische, verschlüsselte Nachrichten-Apps oder DarknetMarktplätze sind beliebte Hilfsmittel. Der Drogenhandel erfolgt durch die Weitergabe von Koordinaten für geheime Verstecke. Die Ware wird meistens vergraben und mit einem Magneten versehen.
Markielau zufolge wurde Legalize Belarus nicht dazu gegründet, eine Cannabisindustrie aufzubauen. Vielmehr verstehen die Aktivist*innen darunter eine Menschenrechtsplattform zur Unterstützung von stigmatisierten, gewaltlosen Gefangenen. Nachdem er selbst mehrfach bei demokratischen Protesten verhaftet wurde, etwa weil er ein Protestschild fotografierte, traf Markielau eine für ihn schwierige Entscheidung und ging ins Ausland – so wie 200.000 seiner Landsleute in den letzten zwei Jahren. Laut ihm würden viele von ihnen Cannabis oder andere Drogen nehmen, denn sie konnten zwar der Diktatur entkommen, doch nicht ihren Lastern. Isoliert in fremden Ländern und ohne Unterstützungsnetzwerke falle es vielen schwer, von psychoaktiven Substanzen loszukommen. »Jede Droge hat unterschiedliche Wirkungen und Nebenwirkungen. Bier trinke ich manchmal aus sozialen Gründen. Cannabis hilft mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und macht mich weniger ängstlich. Hin und wieder nehme ich LSD. Und ein- bis zweimal im Jahr nehme ich Ketamin zur Behandlung von Depressionen«, erklärt Markielau die Gründe seines Konsums.
Not macht erfinderisch
Europas Drogenmarkt wächst. Allein in den vergangenen 25 Jahren wurden nach Angaben der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) 880 völlig neue psychoaktive Substanzen festgestellt. Es überrascht nicht, dass das Verbot gewisser Drogen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte – denn jedes Jahr werden neue Verbindungen entwickelt und auf den Markt gebracht. Meist in China synthetisiert und daraufhin trotz Fehlens wissenschaftlicher Daten konsumiert, scheinen die neuen Psychoaktiva symptomatisch für den unwiderstehlichen Drang zu sein, andere Bewusstseinszustände zu erleben. Auch nach mehreren Wellen der Kriminalisierung gibt es noch immer einen beträchtlichen Online-Markt für Legal Highs.
Zuerst kamen die extrem starken und gefährlichen »Analoga« von TH C, dem Hauptwirkstoff von Marihuana. Gleichzeitig erschienen Aufputschmittel wie Mephedron. Weniger populär, aber ebenfalls bekannt sind verschiedene Alternativen zu Psychedelika und Dissoziativa. Als die Gesetze verschärft wurden, strömten immer neue Ersatzstoffe aus asiatischen Fabriken auf den Markt, was an ein Katz- und Mausspiel zwischen Herstellern und Regulierungsbehörden erinnert Im Laufe der Jahre orientierten sich die Hersteller von Legal Highs weniger an Partygeher*innen und konzentrierten sich dafür mehr auf Depressiva (»Downer«) wie Xanax oder sogar Heroinalternativen. Für den niederländischen Aktivisten der Gruppe Stichting Legalize! Carl-Cyril Dreue besteht die Attraktivität von Legal Highs in der Kombination von einem einfachen Zugang wie im Supermarkt und dem Vertrauen in die Qualität. »Natürlich ist es nicht dasselbe wie illegales Zeug, aber es ist auch in Ordnung.«
Denn wenn Ärzt*innen nicht bereit seien, ein Rezept auszustellen (in der Regel aus gutem Grund), greifen manche Menschen zur Selbstmedikation: Dissoziativa gegen Depressionen, Stimulanzien gegen ADHS, oder Benzodiazepine gegen Angstzustände. »Menschen nehmen Drogen aus einem bestimmten Grund. Wenn man leidet, möchte man, dass der Schmerz verschwindet. Offensichtlich gibt es viel Leid.« Als Dreue etwa vor Jahren »einen Scheißjob in Amsterdam« hatte, nahm er »Benzos«, um ihn zu vergessen. Glücklicherweise bemerkte er, dass er damit nur die Symptome, aber nicht ihre Ursache behandelte. Kurz darauf wechselte er seinen Job. Nicht zuletzt ist auch Spaß ein wichtiger Grund Legal Highs zu konsumieren. Wenn jemand nicht an Substanzen wie MDMA herankommt, ist der Anreiz zum Experimentieren groß. Manche suchen auch Alternativen zum teuren Alkohol.
Zurück zu fremden Wurzeln
Andere suchen nach Erfahrungen, die in der traditionellen Pflanzenmedizin verwurzelt und meist in Südamerika beheimatet sind. Am bekanntesten sind die geistig und körperlich »reinigenden« Ayahuasca-Zeremonien, bei denen die Teilnehmenden ein starkes, psychedelisches Gebräu trinken. Maciej Lorenc, ein polnischer Soziologe, Übersetzer und Schriftsteller, wollte eine derartige Zeremonie mit eigenen Augen sehen und nahm an einem »spirituellen Retreat« teil: »Weiße Menschen verkleiden sich als Indigene. Sie halten sich nicht streng an die Regeln der Ayahuasca-Rituale. Es ist eine Art New-AgePuzzle, man hört von Reinkarnation, Kristallen, Astrologie. Verschiedene religiöse und spirituelle Traditionen werden miteinander vermischt.«Seinen Beobachtungen zufolge kann man die Zeremonien keiner bestimmten Gruppe zuschreiben. Es kann sein, dass dort Prominente neben Arbeiter*innen liegen, die einzige Bedingung ist die Zahlung von 100–500 Euro.
Der Innovationsfaktor solcher Zeremonien hat nachgelassen, sodass mittlerweile ein ganzes Trippy-Buffet für Liebhaber*innen von indigenen psychedelischen Köstlichkeiten entstanden ist: Changa (rauchbar), Yopo (schnupfbar), Sassafras (natürliche Vorstufe zu MDMA/ »Ecstasy«) und sogar extrem überteuerter Kakao (mit angeblich energetisierender Wirkung). Der Global Drug Survey zufolge sind die Hauptgründe für das Experimentieren mit Psychedelika Wellness, psychische Gesundheit und persönliche Herausforderungen.
Behandlung statt Bestrafung
In den letzten Jahren hat sich eine sogenannte »psychedelische Renaissance« entwickelt, insbesondere seit 2019, als das Imperial College im Vereinigten Königreich und die Johns Hopkins University in den Vereinigten Staaten spezialisierte wissenschaftliche Zentren zur medizinischen Erforschung der Substanzen gründeten. Studien zeigen, dass die psychedelisch unterstützte Psychotherapie beeindruckende Ergebnisse erzielt, etwa bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen mit MDMA und klinisch resistenter Depressionen mit Ketamin oder Psilocybin. In Europa und den USA ist Ketamin bereits für psychiatrische Zwecke erhältlich, MDMA wird voraussichtlich 2024 und der Wirkstoff Psilocybin aus Zauberpilzen gegen 2026 legal zugänglich sein.
Um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen, arbeiten Wissenschafter*innen an der Erstellung von Sicherheits- und Wirksamkeitsprotokollen für diese Pharmakotherapien. Dazu gehören auch ausführliche Sitzungen zur Vor- und Nachbereitung sowie eine ganztägige Behandlungsbetreuung. Selbst die besten Ergebnisse sind schwer aufrechtzuerhalten, da die Patient*innen unweigerlich in ihr alltägliches Umfeld zurückkehren und einen Rückfall erleiden können. Nichtsdestotrotz »ist der medizinische Weg wahrscheinlich wirksamer und sicherer als der illegale«, so der Soziologe Lorenc.
Nach über 50 Jahren Krieg gegen die Drogen verlieren immer noch viele ihre Freiheit wegen ihres Konsums. Und das nicht ohne Grund: Trotz der ernsten Risiken von Sucht, Überdosierung oder Inhaftierung können Drogen vorübergehend menschliche Bedürfnisse wie Selbstmedikation, Realitätsflucht oder Experimentieren befriedigen. Ein neuer Ansatz ist längst überfällig. Es ist verrückt, dieselben Fehler immer zu wiederholen und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Psychoaktive Substanzen werden niemals verschwinden. Sie sind in unserer Natur verankert. Ein Motto des spanischen Analyselabors für Substanzen Energy Control besagt: Drogen sind wie Energie. Sie können nicht zerstört, sondern nur kontrolliert werden. Die Gesellschaft muss den Schwerpunkt verlagern – weg von der Bestrafung der Konsument*innen hin zu mehr Aufklärung, Behandlung und Tests zur Drogensicherheit. Wenn Milliarden von Menschen damit einverstanden sind, sich ein COVID-Abstrichstäbchen in die Nase stecken zu lassen, können wir sicher auch solche Herausforderungen in Angriff nehmen.
Jerzy Afanasjew ist Aktivist und setzt sich seit Jahren für mehr Aufklärung im Umgang mit Drogen ein. Er studierte am Institut für Angewandte Sozialwissenschaften der Universität Warschau und arbeitete u.a. zu Fragen psychoaktiver Substanzen bei der Social Drug Policy Initiative in Polen. Er stellt Tests zur Überprüfung der Zusammensetzung und Sicherheit von Substanzen her und gibt Kurse zum Thema.
The International High-Level Conference on Belarus took place (online) on 22 November 2021. The IDM in cooperation with GLOBSEC and Office of Sviatlana Tsihanouskaya organised a side-event on that occasion. B
elarus has undergone profound political changes in the past year. More than a year ago, the streets of Belarus were teaming with people protesting stolen presidential elections and asserting their voices matter. To stifle these voices, the government unleashed a war on civil society. The Belarusian government have arrested thousands of demonstrators and continues with repression against civil society, non-governmental organizations, and the independent media. With Belarus at a democratic crossroads, the international community needs to stand in solidarity with them, counter the government’s attempts to eviscerate civil society, provide unwavering, long-term support to Belarusian groups and activists.
Our experts:
– Pavol Demeš (German Marshall Fund of the United States)
– Mark A. Dietzen (International Republican Institute Vilnius, Lithuania)
– Vytis Jurkonis (Freedom House) – Aliaksandra Lohvinava (Office of Sviatlana Tsikhanouskaya)
– Renata Mieńkowska-Norkiene (University of Warsaw)
– Andrei Stryzhak (BySol – Belarus Solidarity Foundation)
discussed the following questions:
– How can civil society organizations operate in the current mode?
– What method should be used for clear formulation of the policy priorities for the transition period in the country and future reform agenda?
– How to broaden the networks and advocacy channels available to Belarusian democratic civil society in Western democratic countries?
– How to enhance skills of Belarusian analysts to deliver impactful analysis and advocate for the implementation of their recommendations?
– What role can Western institutions play in helping Belarusian civil society to ensure a positive democratic change?
Moderation: Sebastian Schäffer (Institute for the Danube Region and Central Europe – IDM)
On Sunday, May 23 the Lukashenka regime forced a civil plane to land in Minsk due to an alleged bomb threat. Authorities arrested the Belarusian activist Roman Protasevich and his girlfriend for alleged involvement in terrorism and incitement of public disorder as he was covering the opposition protests following Lukashenka’s rigged election in August 2020. EU ministers imposed further targeted sanctions and restricted air traffic over Belarus. Lisa Behrens (IDM) comments on the recent events and on the questions we as Europeans should ask ourselves concerning the situation in Belarus.
Ein Bericht von Lisa Behrens von einem Arbeitstreffen mit Swetlana Tichanowskaja und ihrem Team in der Diplomatischen Akademie in Wien am 27. April 2021.
Als Swetlana Tichanowskaja gemeinsam mit ihrem Team den Festsaal der Diplomatischen Akademie in Wien betritt scheint es, als wäre für das seit August 2020 protestierende belarussische Volk noch lange nichts verloren. Die seit August über 55.000 Inhaftierten, das langsame Abebben der Proteste gegen das repressive Regime Lukaschenkas und die ständige Angst der Zivilbevölkerung verkörpern Ausweglosigkeit. Und doch strahlt Tichanowskaja Entschlossenheit aus, als sie von den längsten anhaltenden Protesten in der Geschichte von Belarus und den Zielen und Visionen ihrer Bewegung berichtet.
Gemeinsam mit ihrem Team will sich Tichanowskaja für friedliche Proteste und eine Übergangszeit mit Neuwahlen im Herbst diesen Jahres einsetzen. Die Folgen der Maidanproteste in der Ukraine hätten gelehrt, eine Politik zu vermeiden, die die belarussische Gesellschaft spalten könnte. Die größte Hoffnung liege in der Unterstützung der OSZE und der Initiierung eines Mediationsprozesses zwischen belarussischer Zivilgesellschaft und Vertreter:innen des Regimes. Die einzige Verhandlungsbedingung dafür sei die Freilassung der 257 politischen Gefangen, die noch heute in belarussischen Gefängnissen inhaftiert sind, zumal Covid-19 durch die Rotation von erkrankten Gefangenen als Waffe gegen politisch Inhaftierte eingesetzt werde.
Insbesondere der bisher ausstehende Dialog mit der russischen Regierung sei zentral für die weiteren Schritte der Bewegung. Aufgrund ihrer historischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen, gilt Belarus als engster Verbündeter Russlands. Im Gespräch betont Tichanowskaja die abnehmende Zustimmung ihrer Anhänger:innen für den Kreml, welcher das repressive Regime Lukashenkas am Leben halte. Nichtdestotrotz unterstreicht sie den Wunsch, auch in Zukunft konstruktive Beziehungen mit dem russischen Partner zu pflegen. Die russische Regierung habe schließlich ein Interesse an Verhandlungen, da ein stabiler und verlässlicher Nachbar nicht nur ein Überschwappen der Proteste nach Russland verhindere, sondern auch mit Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft verbunden sei. Oft genug habe Lukashenka sich als komplizierter Partner für Russland erwiesen, sodass es in den letzten Jahren regelmäßig zu politischen Spannungen zwischen beiden Staaten gekommen sei. Der bestehende Rückhalt der russischen Regierung stelle auch eine sichere Fluchtmöglichkeit für Anhänger:innen der OMON Sicherheitskräfte dar. Anders als während der ersten Protestmonate sei nur noch eine geringe Anzahl an Überläufern offiziell zu verzeichnen. Dies habe auch mit der Angst vor Bestrafung und einhergehendem Wohlstandsverlust zu tun. Tichanowskaja verspricht eine Aussetzung der Bestrafung für Angehörige des Sicherheitsapparats, welche keine schweren Verbrechen begangen haben sowie einen fairen Prozess im Fall von solchen.
Wieder und wieder erinnert Tichanowskaja daran, dass sich der Unmut, die Angst und die Enttäuschung der belarussischen Gesellschaft nach 27 Jahren Lukashenka nicht einfach in Luft auflösen wird. Schon nach den Präsidentschaftswahlen 2010 stand man vor einer ähnlichen Situation. Nun sei es notwendig, aus den eigenen Erfahrungen zu lernen und sich nachhaltig für eine systemische Veränderung einzusetzen.
Oft seien sie kritisiert worden, dass die Proteste nicht gewalttätig genug seien. Dass es längst ein freies Belarus geben würde, hätte man drastischere Mittel als den gewaltfreien Protest gewählt. Wie herausfordernd es wirklich ist, bei so viel Unmut und Repression, Proteste gewaltfrei zu halten, vergisst sich in der glücklichen Welt der demokratischen Staaten schnell.
Als drittgrößter Investor in Belarus und neutraler Staat kann auch Österreich eine entscheidende Mediationsplattform für Belarus bieten, individuelle und gezielte Wirtschaftssanktionen für die sensibelsten belarussischen Exporte in die EU unterstützen, die finanzielle Unterstützung staatlicher Banken in Belarus hinterfragen sowie transparent über verhängte Internetsperrungen durch österreichische Kommunikationsanbieter sprechen.
Wir sollten mehr tun, als nur die Daumen für ein Ende der Repressionen zu drücken. Auch wenn es stiller um Belarus wird, verbreitet Tichanowskajas Vision der in der Politik sonst unüblichen Idee von gesellschaftlicher Einheit als treibende Kraft und einem freien, geeinten Belarus Hoffnung. Eine Hoffnung, die im besten Fall auch den Belaruss:innen die Möglichkeit bietet in eine bessere Zukunft zu blicken.
Foto: Lisa Behrens