Die Verfassung bewusst stärken
Die Bundesverfassung ist die rechtliche Grundordnung der Republik Österreich. Eine Verfassung regelt die grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens der Menschen im Staatsverband. Zu diesen typisch verfassungsrechtlichen Fragen gehören insbesondere der Aufbau, die Organisation und die Ziele des Staates, die Grundsätze für die Ausübung der Staatsfunktionen, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie die Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat.
Österreich hat zwar bis heute keine geschlossene Verfassungsurkunde. Ihr Kernstück, das Bundes-Verfassungsgesetz, ist jedoch auch hundert Jahre nach seiner Beschlussfassung und neunzig Jahre nach einer großen Reform ungebrochen auf der Höhe der Zeit. Gerade die Ereignisse des Jahres 2019 haben gezeigt, dass die Regeln der Verfassung eine kluge Balance der Staatsgewalten garantieren. Die Grundprinzipien der Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat, Bundesstaat und Republik, sind ohne Schnörkel niedergelegt. Die Staatsfunktionen Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit sind in ihren Grundzügen geregelt, voneinander getrennt und in ihren Aufgaben bestimmt. Als »Schlussstein« des Verfassungsgebäudes sind am Ende die Kontrolleinrichtungen verankert, vom Verfassungsgerichtshof bis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, vom Rechnungshof bis zur Volksanwaltschaft.
Die Grundrechte sind in Österreich nicht im Korsett eines einzigen Verfassungsgesetzes gewachsen. Das mag als Schwäche gesehen werden, 100 Jahre Bundesverfassung machen aber deutlich, dass darin im Gegenteil eine Stärke liegt. Liberale Grundrechte des 19. Jahrhunderts stehen neben universell inspirierten europäischen Menschenrechten der Nachkriegszeit, genuin österreichische Schöpfungen wie der Datenschutz oder das Recht auf Zivildienst neben Grundrechten des 21. Jahrhunderts in der Charta der Europäischen Union. Diese Vielfalt wird in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu einem hohen Grundrechtsniveau verdichtet und verschmolzen.
Die Grundrechte sind auch jener Teil des Verfassungsrechts, der den größten Beitrag zum Verfassungsbewusstsein der Menschen leisten kann. Sie gewährleisten Freiheit vom Staat in den klassischen Rechten der Meinungs- und Religionsfreiheit, der Privatsphäre und des Vereinsund Versammlungswesens. Sie sichern über den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in positiver Weise auch soziale Mindeststandards. Und sie gewähren Partizipation und politische Teilhabe im demokratischen Prozess, namentlich über das Wahlrecht, womit sich der Kreis zur Demokratie wieder schließt.
Das Jahr 2020 zeigt, wie rasch und wie intensiv Freiheitsrechte beschränkt werden können, wie schnell auch wirtschaftliche Existenzen einer großen Zahl von Menschen bedroht und vernichtet werden können. Und dass selbst die Durchführung von Wahlen über mehrere Monate verschoben sein konnte, mochte man sich weder 1920 noch 2019 vorzustellen: Artikel 26 Abs. 3 B-VG sieht die Verschiebung einer Nationalratswahl um einen Tag vor, wenn Umstände eintreten, die den Anfang der Wahlhandlung verhindern. Dass im Jahr 2020 in zwei Ländern wegen einer Pandemie Gemeinderatswahlen gleich um mehrere Monate verschoben werden müssen, lag außerhalb des Vorstellbaren.
Verfassungen und ihre Institutionen müssen auch für das zunächst Unvorstellbare gerüstet sein. Neben pflichtgemäßer Aufgabenerfüllung durch die Staatsorgane gehört zum Rüstzeug einer robusten Verfassung auch das Bewusstsein der Bevölkerung um den Wert der Verfassung, aber auch um ihre Verletzlichkeit in Krisen. Ist dieses Bewusstsein da, wird das Verletzliche geschützt und werden die Stärken in den Vordergrund gerückt. Dazu beizutragen, ist ein Auftrag für die Menschen, die im Staat Verantwortung tragen, aber auch für jene, die zur Bildung jüngerer und weniger junger Menschen beitragen können, und für jene, die in der Zivilgesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung haben, zuvörderst an die Menschen, die über die Massenmedien Verantwortung tragen und wirken.
Christoph Grabenwarter, Jg. 1966, ist Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Universitätsprofessor für Öffentliches Recht. Sein beruflicher Weg führte ihn von der Universität Wien über die Universitäten in Linz, Bonn und Graz an die Wirtschaftsuniversität Wien. Grabenwarter ist u.a. Mitglied der VenedigKommission des Europarates.