Zwischen Gesetz und Realität: Ukrainische Rechtstraditionen verstehen

Der Osteuropa-Experte Jakob Mischke beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt mit der Rechtskultur in der Ukraine und erforscht ihre Anfänge. In seinem Gastbeitrag erklärt er, warum es wichtig ist, beim Thema Rechtsstaatlichkeit die lokalen Traditionen zu bedenken.

Wenn man sich mit der Rechtskultur der Ukraine näher befasst, fällt auf, wie häufig Gesetze ignoriert, umgedeutet oder umgangen werden, ohne dass den Beteiligten Konsequenzen drohen. Für Fragen der tatsächlichen Rechtsanwendung interessierte sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts auch Stanislaw Dnistrjans’kyj (1870–1935). Der aus Galizien stammende Privatrechtsprofessor unterrichtete an der 1921 im Wiener Exil gegründeten und später nach Prag verlegten »Ukrainischen Freien Universität«.

Das Recht ist lebendig

Der Rechtsgelehrte war überzeugt, dass Recht nicht durch staatliche Gesetzgebung, sondern durch seine Anwendung im Alltag sozialer Verbände entsteht und weiterentwickelt wird. Sein Ansatz war mit dem des Czernowitzer Professors Eugen Ehrlich verwandt, der zu einem der Mitbegründer der Rechtssoziologie wurde. Ehrlich ging von der Beobachtung aus, dass in einzelnen Gemeinschaften vom Staat unabhängige Rechtsregeln entwickelt und gepflegt wurden – das sogenannte lebende Recht. Dnistrjans’kyjs Forderung lautete, dass der Staat bei Gesetzgebung und Rechtsprechung Rücksicht auf diese lokale soziale Wirklichkeit nehmen müsse. Eine zentralisierte Gesetzgebung hielt er für ineffizient, selbst wenn sie durch Parlamente erfolgt. Und das obwohl, oder gerade, weil Dnistrjans’kyj selbst zwei Legislaturperioden im Abgeordnetenhaus des Wiener Reichsrates gesessen hatte und eine Reform des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) anstrebte. Auch RichterInnen sollten bei ihrer Urteilsfindung die lokalen Rechtstraditionen beachten und gegebenenfalls Gesetze, die mit der Realität vor Ort nicht vereinbar waren, außer Acht lassen.

Der Wille des Volkes

Diese Gedanken liegen auch einem Verfassungsentwurf Dnistrjans’kyjs für die Westukrainische Volksrepublik zugrunde, ein Staat, der am Ende des Ersten Weltkriegs kurzzeitig in Ostgalizien existierte, bevor das Territorium vom wiedererstandenen Polen besetzt wurde. Der Entwurf sollte ausdrücklich auf ukrainische politische Traditionen aufbauen, um Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Eine zentrale Eigenschaft dieser Verfassung war das Subsidiaritätsprinzip. Demnach sollen Entscheidungen möglichst in kleinen lokalen Gemeinden gefällt werden, was der ukrainischen Tradition demokratischer Entscheidungsfindung nahekomme. Die aktuellen Dezentralisierungsbestrebungen in der Ukraine hätte Dnistrjans’kyj also auf jeden Fall begrüßt.

Dnistrjans’kyj war sich sicher, dass in der Ukraine nur eine demokratische Staatsform Erfolg haben würde, auch wenn seine Demokratievorstellungen von den heutigen abweichen. Als wesenhaft für die Demokratie sah er nicht Verfahren oder Checks and Balances an. Vielmehr war es ihm wichtig, dass gefällte Entscheidungen mit dem allgemeinen Willen des Volkes im Sinne Rousseaus übereinstimmten. Als älteste Institution ukrainischer Demokratie nannte er das so genannte viče, eine Volksversammlung, die es schon in der mittelalterlichen Kyïver Rus’ gab, aber auch bei den Kosaken Anwendung fand. Diese Volksversammlung lässt einen Anführer dabei so lange gewähren, wie das Volk mit seiner Regierungsführung zufrieden ist. Andernfalls wird der Anführer kurzerhand durch einen neuen ersetzt. Die Parallelen zu politischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte sind deutlich, zeigen aber auch, dass eine solche Demokratie Instabilität bedeutet und dass die Grenzen hin zur Diktatur offen sind. In seinem Verfassungsentwurf setzt Dnistrjans’kyj wohl deswegen dann doch auf ein Parlament als primären Gesetzgeber, räumte aber der direkten Demokratie Raum in Form von Referenden ein.

Sprache und Nation

Auch in der Nationalitätenfrage decken sich Dnistrjans’kyjs Ansichten vor 100 Jahren mit dem heute in der Ukraine dominierenden Konsens. Für die Zugehörigkeit zur ukrainischen Volksgruppe sollte nämlich nicht der Sprachgebrauch das zentrale Kriterium sein, sondern die bewusste Willensäußerung. Konnte es im damaligen Lemberg passieren, dass sich jemand als Ukrainer oder Ukrainerin verstand, obwohl er oder sie im Alltag fast nur Polnisch sprach, so ist es heute ebenso selbstverständlich, als Russisch sprechende Person für die Ukraine einzustehen.

Dass alle politischen Konzepte Dnistrjans’kyjs heute anwendbar wären, darf bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz können seine Überlegungen von damals dabei helfen, das heutige Rechts- und Politikverständnis in der Ukraine besser zu erfassen. Dnistrjans’kyj war es, der erstmals systematisch versucht hatte, den aktuellen Stand der Rechtswissenschaft auf die Rechtskultur der Ukraine anzuwenden und diese mit der Entwicklung einer ukrainischen nationalen Erzählung (Nationalnarrativ) zu verweben. In seinen Ansichten ergeben sich teils erstaunliche Parallelen zu gesellschaftlichen Phänomenen, mit denen die ukrainische Gesellschaft auch heute zu kämpfen hat.

 

Jakob Mischke studierte Osteuropastudien und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und arbeitete danach als Koordinator eines deutsch-ukrainischen Studiengangs an der Nationalen Universität der Kyïver Mohyla-Akademie. Gegenwärtig verfasst er am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien eine Dissertation zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Ukrainischen Freien Universität in der Zwischenkriegszeit.

Rechtsstaatlichkeit als wichtiger Investitionsfaktor

Die COVID-19-Krise stürzte viele Unternehmen in unsichere Gewässer. Am Beispiel der Slowakei erklärt die Ökonomin Doris Hanzl-Weiss, wie rechtliche Unsicherheit das Wirtschaftsumfeld belasten kann.

Die Slowakei ist eine kleine offene Volkswirtschaft und stark vom Außenhandel abhängig. Die Automobil-Industrie ist für rund 32% der Gesamtexporte verantwortlich und gilt damit als zentraler Exporteur des Landes. Sie stützt sich auf vier große ausländische Fahrzeughersteller im Land, darunter VW Bratislava, PSA Peugeot Citroën in Trnava, KIA Motors Slovakia in Žilina und Jaguar Land Rover in Nitra. Stabile wirtschaftliche insbesondere rechtliche Rahmenbedingungen waren und sind wichtige Faktoren für ausländische Investoren. Wie sich ausländische Direktinvestitionen in der Slowakei entwickelt haben und welche Rolle das wirtschaftlichere Umfeld dabei hatte soll hier näher erläutert werden.

Intransparenz unter Mečiar

Die erste Zeit nach Gründung der Slowakei 1993 und dem Zerfall des kommunistischen Systems war gekennzeichnet durch geringe Zuflüsse an ausländische Direktinvestitionen (ADI). Grund dafür war das autoritäre Regime unter Vladimír Mečiar, das zu internationaler Isolation, undurchsichtiger Privatisierung und Klientelismus und in Folge davon zur Abschreckung von ausländischen Investoren führte. Erst 1998 mit der neuen Regierung unter Mikuláš Dzurinda (I und II) und den damit einhergehenden tiefgreifenden Reformen konnte eine Wende erzielt werden. Zwischen 2000 und 2008 betrug der durchschnittliche jährliche ADI-Zuwachs 7,7 % des Bruttoinlandproduktes (BIP), viel höher als in den Nachbarländern Tschechien (5,9%), Ungarn (4,7%) oder Polen (3,6%).

EU-Beitritt förderte Investitionen

Entscheidende Faktoren für den Zufluss waren einerseits die Privatisierungen am Beginn der 2000er Jahre im Bereich Telekommunikation und im Energie- und Finanzsektor. Andererseits wirkte der EU-Beitritt 2004 als Katalysator für neue Investitionen. Besonders wichtige Greenfield-Investitionen, also etwa Neuerrichtungen von Produktionsstätten auf einem neuen oder noch jungen Markt, fanden im Bereich der Automobilindustrie statt. Nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise fiel die Slowakei bei den ADI-Zuflüssen jedoch hinter den Nachbarn zurück: Zwischen 2010 und 2018 konnte sie nur durchschnittlich 1,6% des BIP an ADI-Zuflüssen lukrieren, die anderen Länder zwischen 2,4 % (Polen) und 3 % (Tschechien und Ungarn).

Niedrige Rechtsdurchsetzung als Barriere

Um attraktiv für ausländische Direktinvestitionen zu sein, muss das wirtschaftliche Umfeld konkurrenzfähig und günstig sein. Dieses wird jedoch für die Slowakei Jahr für Jahr schlechter eingestuft. Beispielsweise fiel die Slowakei im Global Competitiveness Index des World Economic Forums 2019 um eine Position zurück und rangiert aktuell auf Platz 42 (von insgesamt 141 Plätzen). Zum Vergleich: Tschechien lag auf Platz 32, Polen auf Platz 37 und Ungarn auf Platz 47. Zwar ist der Business Environment Index des slowakischen Unternehmensverbandes (Business Association of Slovakia – PAS) langfristig angestiegen, seit 2006 befindet er sich allerdings kontinuierlich im Sinkflug. Die EU-Kommission sieht hohe regulatorische Belastungen, niedrige Rechtsdurchsetzung, anhaltende Bedenken zur Unabhängigkeit der Justiz und Polizei, häufige Gesetzesänderungen und Rechtsunsicherheit als Faktoren, die die Wettbewerbsfähigkeit behindern. Eine Umfrage unter ausländischen Investoren in der Slowakei 2019 zeigte, dass die Rechtssicherheit, die Verfügbarkeit von Fachkräften sowie steigende Lohnkosten, die Transparenz der öffentlichen Auftragsvergabe und die Bekämpfung der Korruption zu den am schlechtesten bewerteten Standortbedingungen derzeit zählen.

Reformen in Sicht?

Die COVID-19 Krise hat die Unsicherheit für Unternehmen – nicht nur in der Slowakei – in den ersten Monaten 2020 weiter verstärkt. Es mussten fast täglich neue Vorgaben, Reglungen oder Gesetzesänderungen verfolgt werden. Vorgaben für Hilfsmaßnahmen wurden als kompliziert und intransparent angesehen, z.B. welche Unternehmen anspruchsberechtigt sind und welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um Hilfsmaßnahmen zu bekommen. Aus Angst vor Strafen haben viele nicht um Hilfe angesucht.

Langfristig gesehen könnten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter der neuen konservativen Regierung unter Igor Matovič verbessern. Er hat mit seinem Anti-KorruptionsWahlkampf die letzten Parlamentswahlen im März 2020 gegen die lang amtierende Partei Smer gewonnen. Auf der Agenda der neuen Justizministerin Mária Kolíková steht eine Reform der Justiz. Um die Unvorhersehbarkeit des Gesetzgebungsprozesses zu verbessern, möchte sie indirekte Gesetzesänderungen stoppen, einzelne Gesetze, die miteinander verbunden sind, im Paket und zu einem gemeinsamen Zeitpunkt einführen, sowie das übliche Gesetzgebungsverfahren stärken und respektieren. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die neue Regierung ihre Versprechungen einhalten kann. Wenn es ihr gelingt, das wirtschaftliche Umfeld zu verbessern, wird die Slowakei wieder für Investitionen attraktiver werden.

Alle ADI-Daten basieren auf der wiiw FDI Database: data.wiiw.ac.at

The Slovak Spectator: spectator.sme.sk

European Commission (2020), Country Report Slovakia 2020: ec.europa.eu/info/publications

 

Doris HanzlWeiss ist Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Sie ist Länderexpertin für die Slowakei und befasst sich mit Themen des Strukturwandels und Sektoranalysen. Hanzl-Weiss hat Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und arbeitete an verschiedensten Projekten für internationale Institutionen (z. B. UNIDO, Europäische Kommission vDG Grow, etc.). 

Rechtsstaatlichkeit im Vergleich: »Westliche Arroganz ist fehl am Platz«

Der Rechtswissenschaftler Herbert Küpper kennt die Ecken und Kanten europäischer Rechtsstaatlichkeit. Für Info Europa zeigt er vorhandene Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten auf und fordert beim Blick »nach Osten« mehr Dialog auf Augenhöhe.

Alle Staaten Europas, mit Ausnahme des Vatikans, definieren sich als Rechtsstaaten. EU-Mitgliedern ist die Rechtsstaatlichkeit ein verbindlicher gemeinsamer Wert (Art. 2 EU-Vertrag). Nichtsdestotrotz gibt es in Europa drei Traditionen: die britische rule of law, die französische légalité und den Rechtsstaat des deutschen Sprachraums. Ihnen gemeinsam ist die Überwindung von Willkür durch für alle geltende Regeln. Seit 1945 durchdringen sich diese Traditionen zunehmend. Insbesondere der deutschsprachige »Rechtsstaat« hat auch nach Osten ausgestrahlt. Der Sozialismus beendete alle rechtsstaatlichen Ansätze, denn er lehnte den Rechtsstaat ab. Zwar lebten in den Ländern, die vor dem Sozialismus Rechtsstaaten gewesen waren, unterschwellig rechtsstaatliche Elemente fort. Als Wert war der Rechtsstaat jedoch bis in die 1980er Jahre desavouiert. Westeuropa blieb diese Erschütterung erspart. Hier konnte sich der Rechtsstaat organisch fortentwickeln – abgesehen von dem Kollaps des Rechtsstaats zwischen 1933 und 1945 in Deutschland. Aus der Konvergenz der unterschiedlichen Traditionen, die u. a. durch die Aufarbeitung des NS-Unrechts neue Dimensionen erhielten, bildete sich eine gemeinsame westeuropäische Rechtsstaatsidee, die auch der EU zugrunde gelegt wurde.

Rechtsstaatlichkeit als gemeinsamer Wert

Nach der Wende verkörperte der Rechtsstaat besser als andere Werte die neue Ordnung. Hierbei orientierten sich die »neuen« Rechtsstaaten Osteuropas naturgemäß am Westen. Ihre eigenen Traditionen waren 1990 nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Außerdem wollten die Staaten, die soeben den Eisernen Vorhang überwunden hatten, Teil eines gesamteuropäischen »Raums der Rechtsstaatlichkeit« werden. Hierbei haben die Staaten und Gesellschaften in Osteuropa enorme Anpassungsleistungen erbracht: Von einem Tag auf den anderen wurden Staat, Recht, Gesellschaft und Wirtschaft auf diametral entgegengesetzte Werte umgestellt. Eine der größten Leistungen war der Aufbau eines Rechtsstaats. Rechtsstaat ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess. Ihn in der Verfassung festzuschreiben reicht nicht. Er lebt jeden Tag aufs Neue in Millionen staatlicher Akte, in denen die StaatsdienerInnen der Versuchung widerstehen, willkürlich aufzutreten und/oder sich zu bereichern. Hierzu bedarf es ausgefeilter Gesetze, eines hohen Ethos in einem vernünftig bezahlten öffentlichen Dienst und einer Zivilgesellschaft, die Rechtsstaatlichkeit einfordert. Diesen Herausforderungen haben sich die Staaten Osteuropas, vor allem die neuen EU-Mitglieder, gestellt. Auch wenn die Erfolge unterschiedlich ausfielen und ausfallen, wurde überall Enormes geleistet. Dem widerspricht der aktuelle Abbau des Rechtsstaats in einigen östlichen EU-Staaten wie Ungarn oder Polen nur scheinbar. Dahinter steht unter anderem das Gefühl, die eigenen Leistungen würden von einem besserwisserischen Westen bis heute nicht hinreichend gewürdigt. Deshalb wendet man sich von der ohnehin unerreichbar scheinenden westlichen Rechtsstaatsidee ab und kreiert einen eigenen »nationalen« Rechtsstaat. Der Rechtsstaat wird aus Sicht autoritärer Osteuropäer nicht negiert, sondern modifiziert, zu seinen »echten europäischen« Wurzeln zurückgeführt.

»Moderner« Osten, »veralteter« Westen?

Aufgrund der erwähnten Runderneuerung der Rechtsordnungen seit 1990 besitzen viele osteuropäische Staaten heute Gesetze, die als Ergebnis intensiver Rechtsvergleichung und westlicher Beratungshilfe »modern« sind. Viele westeuropäische Gesetze hingegen sind Jahrzehnte, gar Jahrhunderte alt und weisen trotz ständiger Anpassungen ein Modernitätsdefizit auf. Das gilt auch für Gesetze im Kernbereich der Alltagsrechtsstaatlichkeit, im allgemeinen Verwaltungsrecht. Das österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz wird in fünf Jahren 100. Auch wenn es noch immer die »Mutter aller Verwaltungsverfahrensgesetze« ist, ist sein Reformbedarf unabweisbar. Die deutsche Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 regelt den Zugang der BürgerInnen zum Gericht so umständlich und lückenhaft, dass sie, würde sie heute erlassen, vom Bundesverfassungsgericht wohl aufgehoben werden würde und auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) keine Gnade fände; sie genügt rechtsstaatlichen Ansprüchen nur dank einer richterlichen Praxis, die sich über die Mängel des Gesetzes hinwegsetzt. Zur Behebung des Reformbedarfs alter westlicher Gesetze bietet sich ein Blick nach Osten an: Die dortigen Vorschriften sind dank der sorgfältigen komparativen Vorarbeiten oft Gesetz gewordene moderne »best practices«. Warum also das Rad neu erfinden, warum nicht bei der allfälligen Modernisierung westlicher Gesetze in die Gesetzestexte im Osten schauen? Liefe das Lernen nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Ost nach West, würde das auch dem populistisch ausbeutbaren Gefühl in Osteuropa, nie aus der Rolle des »armen Verwandten« herauszukommen, die Grundlage entziehen.

Voneinander lernen

Die Rezeption von Ost nach West hat allerdings Grenzen. Das alltägliche Rechtsstaatsniveau der Verwaltungen im Westen ist höher als das im Osten. Wo sich dies in den östlichen Gesetzestexten widerspiegelt, zum Beispiel in der Betonung von Top-down-Verfahren und dem Verzicht auf konsensuale Entscheidungsmöglichkeiten wie dem Vertrag zwischen Verwaltung und BürgerInnen, sind sie nicht »modern« genug, um als Inspiration und Gegenstand einer Rezeption zu dienen. Dies sollte und kann in einem West-Ost-Dialog auf Augenhöhe, zwischen gleichberechtigten Partnern, die grundsätzlich etwas voneinander lernen können, geklärt werden. Westliche Arroganz, verbunden mit einem erhobenen Zeigefinger, ist fehl am Platz.

I.Krastev, S. Holmes: The Light that Failed, Allen Lane, London 2019.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper studierte Rechtswissenschaften in Köln und London und absolvierte seine Referendarausbildung in Köln und Budapest. Ab 2003 Wissenschaftlicher Referent, seit 2004 Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München. Forschungsschwerpunkte: ungarisches Recht, postsozialistisches Recht, vergleichendes öffentliches Recht. Lehraufträge in Budapest, Pécs, Szeged, Wien. Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft.

COVID-19 und vorbestehende Grunderkrankungen der Demokratie

Wie gut funktioniert die Demokratie im Notzustand? Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Politik und Rechtsstaatlichkeit in Europa? Der Verfassungsjurist Arkadiusz Radwan wirft einen Blick in das PatientInnenblatt unserer Gesellschaft und warnt vor gefährlichen Grunderkrankungen.

Der Vormarsch der Pandemie durch Europa hat Vieles auf den Prüfstand gebracht: nationales und europäisches Krisenmanagement, die Belastbarkeit unserer Gesundheitssysteme, Solidarität zwischen den Generationen, globale Geschäftsmodelle und Lieferketten, das Dogma der Kapitalverkehrsfreiheit, das Primat des Konsumdenkens und nicht zuletzt auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch hat die Pandemie etwas Neues über die Verfasstheit unserer Gesellschaft und unsere konstitutionelle Ordnung enthüllt? Oder hat sie nur bestehendes Wissen bestätigt? Viele der COVID-bedingten verfassungsrechtlichen Probleme sind überwiegend prozedural-technischer Natur, beispielsweise die reine Briefwahl, die Arbeitsweise der Parlamente in Zeiten von Isolation und Social Distancing, Gerichtstermine via Video usw. Andere Probleme sind teils juristischer, teils politisch-philosophischer Natur: Wie kann der durch den Lockdown entstandene Schaden ersetzt werden? Wie sieht eine gerechte Verteilung der Kosten aus? Die letzte Frage hat auch eine klare europäische Dimension und wirft erneut das Thema der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsanleihen auf.

Notzustand als politische Waffe

Eine Naturkatastrophe wie die Pandemie versetzt unsere Prioritäten und ändert, wie wir Güter gegeneinander abwägen: Sicherheit und Schutz öffentlicher Gesundheit mögen Maßnahmen rechtfertigen, die deutlich weiter in Grundfreiheiten, wie etwa Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, eingreifen, als es unter anderen Umständen denkbar wäre. Legislative und administrative Handlungen werden zusätzlich durch das sogenannte Action Bias intensiviert: Effizientes Krisenmanagement erfordert, dass die EntscheidungsträgerInnen über ausreichende Handlungsspielräume verfügen, die schnelles und flexibles Agieren ermöglichen. In den meisten Fällen ist diese Zielsetzung mit Beachtung herkömmlicher Prozeduren und unter Befolgung demokratischer Meinungsbildungsprozesse aber kaum realisierbar. Der Weg zur Legalisierung von Shortcuts und Bypässen der rechtsstaatlichen Standardverfahren führt üblicherweise durch die Verhängung eines im nationalen Recht vorgesehenen Notstands, beispielsweise eines Ausnahme-, Katastrophen-, oder Epidemiezustandes. Weltweit haben sich ungefähr 100 Staaten bzw. Bundesstaaten oder autonome Regionen im Zuge der Corona-Krise für die Verhängung eines derartigen Zustandes entschieden. Ein Notstand, wie rechtsvergleichend heterogen diese Kategorie auch sein mag, beinhaltet das Recht der Regierung, manche Freiheitsrechte der BürgerInnen vorübergehend einzuschränken oder auszusetzen. Auch die Gewaltenteilung wird geschwächt bzw. teilweise aufgehoben. Da all dies die Macht der Exekutive festigt, liegt die Vermutung nahe, autoritäre Regierungen wären schneller dazu geneigt, States of Emergency einzuführen. Diese Vermutung wird nur teilweise durch komparativ-empirische Untersuchungen belegt: Zwar verhängten Autokratien durchschnittlich schneller und bei einer deutlich niedrigeren Zahl bestätigter COVID-Fälle einen Notzustand, doch im Vergleich zu Demokratien entschieden sie sich insgesamt seltener dafür (Bjørnskov, Voigt). Dies ist dadurch zu erklären, dass der Machtzuwachs der Regierung in Autokratien durch Notzustände geringer ausfällt als in Demokratien. Diverse Variationen von States of Emergency wurden zu Narrativen, die in vielen Ländern unterschiedlich von der Regierung oder Opposition genutzt wurden, je nachdem, wer sich durch die Verhängung des Notzustands begünstigt oder benachteiligt sah. So geriet etwa Ungarns Premierminister Viktor Orbán, der eine rasche Verhängung des Ausnahmezustands herbeigeführt hat, in die Kritik der Opposition sowie des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mit dem Vorwurf, er nutze die Pandemie dafür aus, seine Macht zu konsolidieren. Eine historisch begründete Skepsis wurde auch in Frankreich gegen die Erteilung von außergewöhnlichen Kompetenzen (Pouvoirs exceptionnels) nach Art. 16 der französischen Verfassung für den Präsidenten geäußert. In Polen war es dagegen nicht die Regierung, sondern die Opposition, die die Verhängung des Katastrophenzustandes forderte, um dadurch die Durchführung der verfassungsrechtlich dubiosen Präsidentschaftswahl zu unterbinden.

Wahlen im Schatten der Pandemie

Besonderes Augenmerk gebührt der Wirkung der Pandemie auf Wahlen, da anhand dieser etwaige COVID-Anfälligkeiten der Demokratie am besten illustriert werden können. Die Kommunalwahlen in Bayern wurden in der Stichwahlrunde am 29. März zum ersten Mal als reine Briefwahl organisiert. Ein Schulterschluss aller Fraktionen trotz kurzfristiger Neugestaltung der Regeln sicherte dabei das Vertrauen der WählerInnen und verzeichnete eine bemerkenswerte Wahlbeteiligung. Die local elections im Vereinigten Königreich wurden weitgehend einvernehmlich vom 7. Mai 2020 auf den 6. Mai 2021 verschoben. Die erste Runde der élections municipales in Frankreich (15. März) wurde trotz bestehender Infektionsgefahr mit Akzeptanz aller Parteien durchgeführt, die Stichwahl musste aber aufgrund der verschärften Lage auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Diese Beispiele belegen, dass jede Lösung denkbar ist, wenn die überwiegende Mehrheit der politischen AkteurInnen alle Meinungen berücksichtigt, die Vorgehensweise gemeinsam bestimmt und dabei auf das Vertrauen der BürgerInnen in demokratische Vorgänge geachtet wird. Gegenbeispiele umfassen Polen und Serbien, wo die Pandemie auf unterschiedliche Art und Weise den Wahlprozess beeinträchtigt hat.

In Polen fiel der Ausbruch der Pandemie zeitlich mit der Präsidentschaftswahl zusammen. Die regierende PiS-Partei hatte auf den ursprünglich für den 10. Mai festgelegten Wahltermin beharrt. Die Opposition erklärte sich sehr skeptisch und forderte die Verhängung des Katastrophenzustandes, wodurch die Wahlen automatisch verschoben werden müssten. Über Wochen hinweg dominierte der Streit um Wahltermine die öffentliche Debatte. Die Glaubwürdigkeit der Regierung, etwa zu offiziellen Angaben über bestätigte COVID-19-Fälle, war erschüttert. Meinungsumfragen sahen die polnische Regierung im EU-weiten Vergleich auf dem zweitniedrigsten Rang des Vertrauens-Rankings. Zudem drohte Polen eine jahrelange Demokratiekrise: Falls der Amtsinhaber Andrzej Duda bei rekordniedriger Wahlbeteiligung wiedergewählt worden wäre, hätten hunderttausende WählerInnen die Wahl vor dem Obersten Gericht angefochten. Das Abrutschen Polens ins Chaos konnte schließlich verhindert werden, indem der Stellvertretende Premierminister Jarosław Gowin sein Amt opferte und politische Verluste riskierte. Die Wahlen wurden vom Mai auf Juni verschoben und Polen verzeichnete eine der höchsten Wahlbeteiligungen der letzten 25 Jahre. Was als wahres Fest der Demokratie schien, wurde jedoch durch den ausgeprägten Geist des politischen Tribalismus verdorben. Ähnlich wie in Polen hat sich die Politik in Serbien eher nach politischem Kalkül als nach der Gesundheitspolitik orientiert. Die mögliche Wirkung der Pandemie auf das Verhalten der WählerInnen und die Wahlchancen der Parteien fungierten dabei als wichtigster Wegweiser für die opportunistisch agierenden MachthaberInnen.

Immunität der Demokratie

Kann Demokratie gegen das Virus immun werden? Meine Antwort darauf ähnelt jener der Medizin: Entscheidend sind die vorbestehenden Grunderkrankungen. Dazu zähle ich die politische Polarisierung im Zeitalter der digitalen Demokratie, die Schwäche der Institutionen sowie das niedrige Niveau des sozialen Vertrauens. Die Pandemie hat gezeigt: VertreterInnen gegenteiliger Positionen sehen sich in ihren vorpandemischen Vorstellungen bestätigt und dazu berufen, sie noch stärker zu artikulieren. Während die einen zu mehr Wirtschaftspatriotismus aufrufen, liefern die anderen ein Plädoyer für mehr übernationale Koordinierung. »Nur Nationalstaat« vs. »nur gemeinsames Europa« lauten die Antworten auf die Frage, wer erfolgreich aus der Krise hervorgeht. COVID-19 hat uns nicht verändert, wir sind genauso, wie wir schon zuvor waren, bloß krasser und intensiver. Die Pandemie ist in der Lage, die steigende politische und gesellschaftliche Polarisierung noch weiter voranzutreiben. In ihr sehe ich somit die gegenwärtig gefährlichste Grunderkrankung der Demokratie. Ich fürchte, dass wir früher einen Impfstoff gegen COVID-19 entwickeln, als eine konstitutionell-institutionelle Prophylaxe gegen das Virus der Polarisierung anbieten zu können.

 

Prof. Dr. Arkadiusz Radwan ist Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Professor an der Vytautas-Magnus-Universität Kaunas sowie an der Universität Warschau. Radwan ist Gründer des Allerhand Institute of Advanced Legal Studies in Krakau. Zudem ist er Mitglied des Internationalen Rates des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).

Die Verfassung bewusst stärken

Die Bundesverfassung ist die rechtliche Grundordnung der Republik Österreich. Eine Verfassung regelt die grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens der Menschen im Staatsverband. Zu diesen typisch verfassungsrechtlichen Fragen gehören insbesondere der Aufbau, die Organisation und die Ziele des Staates, die Grundsätze für die Ausübung der Staatsfunktionen, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie die Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat.

Österreich hat zwar bis heute keine geschlossene Verfassungsurkunde. Ihr Kernstück, das Bundes-Verfassungsgesetz, ist jedoch auch hundert Jahre nach seiner Beschlussfassung und neunzig Jahre nach einer großen Reform ungebrochen auf der Höhe der Zeit. Gerade die Ereignisse des Jahres 2019 haben gezeigt, dass die Regeln der Verfassung eine kluge Balance der Staatsgewalten garantieren. Die Grundprinzipien der Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat, Bundesstaat und Republik, sind ohne Schnörkel niedergelegt. Die Staatsfunktionen Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit sind in ihren Grundzügen geregelt, voneinander getrennt und in ihren Aufgaben bestimmt. Als »Schlussstein« des Verfassungsgebäudes sind am Ende die Kontrolleinrichtungen verankert, vom Verfassungsgerichtshof bis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, vom Rechnungshof bis zur Volksanwaltschaft.

Die Grundrechte sind in Österreich nicht im Korsett eines einzigen Verfassungsgesetzes gewachsen. Das mag als Schwäche gesehen werden, 100 Jahre Bundesverfassung machen aber deutlich, dass darin im Gegenteil eine Stärke liegt. Liberale Grundrechte des 19. Jahrhunderts stehen neben universell inspirierten europäischen Menschenrechten der Nachkriegszeit, genuin österreichische Schöpfungen wie der Datenschutz oder das Recht auf Zivildienst neben Grundrechten des 21. Jahrhunderts in der Charta der Europäischen Union. Diese Vielfalt wird in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu einem hohen Grundrechtsniveau verdichtet und verschmolzen.

Die Grundrechte sind auch jener Teil des Verfassungsrechts, der den größten Beitrag zum Verfassungsbewusstsein der Menschen leisten kann. Sie gewährleisten Freiheit vom Staat in den klassischen Rechten der Meinungs- und Religionsfreiheit, der Privatsphäre und des Vereinsund Versammlungswesens. Sie sichern über den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in positiver Weise auch soziale Mindeststandards. Und sie gewähren Partizipation und politische Teilhabe im demokratischen Prozess, namentlich über das Wahlrecht, womit sich der Kreis zur Demokratie wieder schließt.

Das Jahr 2020 zeigt, wie rasch und wie intensiv Freiheitsrechte beschränkt werden können, wie schnell auch wirtschaftliche Existenzen einer großen Zahl von Menschen bedroht und vernichtet werden können. Und dass selbst die Durchführung von Wahlen über mehrere Monate verschoben sein konnte, mochte man sich weder 1920 noch 2019 vorzustellen: Artikel 26 Abs. 3 B-VG sieht die Verschiebung einer Nationalratswahl um einen Tag vor, wenn Umstände eintreten, die den Anfang der Wahlhandlung verhindern. Dass im Jahr 2020 in zwei Ländern wegen einer Pandemie Gemeinderatswahlen gleich um mehrere Monate verschoben werden müssen, lag außerhalb des Vorstellbaren.

Verfassungen und ihre Institutionen müssen auch für das zunächst Unvorstellbare gerüstet sein. Neben pflichtgemäßer Aufgabenerfüllung durch die Staatsorgane gehört zum Rüstzeug einer robusten Verfassung auch das Bewusstsein der Bevölkerung um den Wert der Verfassung, aber auch um ihre Verletzlichkeit in Krisen. Ist dieses Bewusstsein da, wird das Verletzliche geschützt und werden die Stärken in den Vordergrund gerückt. Dazu beizutragen, ist ein Auftrag für die Menschen, die im Staat Verantwortung tragen, aber auch für jene, die zur Bildung jüngerer und weniger junger Menschen beitragen können, und für jene, die in der Zivilgesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung haben, zuvörderst an die Menschen, die über die Massenmedien Verantwortung tragen und wirken.

 

Christoph Grabenwarter, Jg. 1966, ist Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Universitätsprofessor für Öffentliches Recht. Sein beruflicher Weg führte ihn von der Universität Wien über die Universitäten in Linz, Bonn und Graz an die Wirtschaftsuniversität Wien. Grabenwarter ist u.a. Mitglied der VenedigKommission des Europarates.

Antiziganismus ist trotz Corona gesund und lebendig

Die Juristin Lilla FARKAS setzt sich für die Gleichberechtigung der Roma-Minderheit ein. In ihrem Kommentar prangert sie tiefgehende und folgenschwere Probleme in Ungarn an, weist aber auch auf blinde Flecken in der europäischen Debatte um Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte hin.

Romaphobie bzw. Antiziganismus ist sozusagen die letzte akzeptierte Form von Rassismus in Europa. Die Minderheit ist wenig bis gar nicht in den Nachrichten zu sehen, da sich der Kampf gegen die Coronakrise hauptsächlich auf politische Reaktionen konzentriert. In der Slowakei und in Rumänien war lediglich die Schließung infizierter Roma-Viertel eine Nachricht wert, die zeigt, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen. Die Instrumente der Virus-Eindämmung folgen dabei dem Muster jahrhundertelanger räumlicher Segregation und sozialer Ausgrenzung der Minderheit. Ob die Gesundheitsmaßnahmen die imaginären, oft aber auch sehr realen Mauern um die RomaViertel überwinden, wird nicht berichtet. Die Romnja und Roma werden im Kampf gegen das Virus und die wirtschaftliche Not nach der Krise alleingelassen. Die Mehrheit ist auf dem Schwarzmarkt beschäftigt, was zur Folge hat, dass selbst die halbherzigen und viel kritisierten Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft wenig Wirkung auf sie haben werden. Eine gezielte Unterstützung wäre notwendig, aber wie so oft profitiert die Minderheit nicht von sozialen Förderungen. Vielmehr befürchten ExpertInnen und AktivistInnen, dass die Wirtschaftskrise nach dem COVID unweigerlich zu einer weiteren Verschlechterung ihrer sozioökonomischen Lage führen wird.

©XKK Communication Agency

Roma-feindliche Kampagnen

Antiziganismus ist in Ungarn so weit verbreitet, dass die Krise den ungarischen Romnja und Roma sogar kurz zu Gute kam, indem sie die skrupellosen Sündenbock-Kanonen der Regierung Orbán auf einen idealen Feind, ein unbekanntes ausländisches Virus, lenkte. Ende Februar stellten die von der Regierung geförderten Medien die jüngste romafeindliche Kampagne ein, die im Anschluss an einen Entschädigungsfall geführt worden war. Die Gerichte hatten 60 Kindern eine Entschädigung von einer Million Forint (knapp 3000 Euro) für die segregierte und schlechtere Bildung zugesprochen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 wurde der Fall Gyöngyöspata von der Fidesz-Partei genutzt, um erneut den inneren Feind ins Visier zu nehmen. Der politisch lukrativen Fremdenfeindlichkeit ging nämlich die Luft aus. Es folgte eine dreimonatige Pause mit dem Kampf gegen die erste Welle des Coronavirus. Die Regierung gewann glorreich, indem sie die Saat einer von der Regierung initiierten und auf Erlassen beruhenden Gesetzgebung säte und die lokale Regierung mit obligatorischen »Solidaritätsbeiträgen« fesselte, die die lokalen Haushalte leerten, während sie die Lasten der Steuereinziehung und der sozialen Versorgung den von der Opposition kontrollierten Städten überließ. Vor kurzem ist die Fidesz-Regierung jedoch wieder zum Minderheitenthema zurückgekehrt. Der alt-neue Ansatz besteht darin, die Unterdrückung der Romnja und Roma weiter zu verankern. Daher zielt die Kampagne auf Schulen ab. Sie gelten als der einzig verbleibende physischer Raum, den sich die Minderheit und die Mehrheitsgesellschaft immer noch teilen. 60–70 % der Romnja und Roma sind in Bezug auf Wohnen, Arbeit und sogar Gesundheitsversorgung, wie etwa in Entbindungsstationen, segregiert. Sie kaufen im »RomaViertel« ein, denn sobald sie diese verlassen, werden sie von der Polizei strengstens überwacht, was zu einer unerträglichen Anzahl von Kontrollen und Geldstrafen führt.

Schulen im Fokus

Die Regierung ist bestrebt, die Polizeiarbeit auf problematische Schulen auszuweiten, in denen Kinder, die Angehörige der Minderheit sind, überrepräsentiert sind. Es geht darum, ihnen die Familienbeihilfe zu entziehen, wenn sie Ärger machen, und ihnen das Recht auf zivilrechtlichen Rechtsbehelf zu verweigern, sollten sie den Mut aufbringen, vor Gericht Gerechtigkeit zu suchen. Ein Fidesz-Abgeordneter, der sich einen Namen gemacht hat, indem er die Roma-Gemeinschaft in Gyöngyöspata in den Medien schikanierte, wurde vom Premierminister ernannt, um das Problem von Schultrennungen zu Beginn der Coronakrise zu lösen. Der Direktor der lokalen Schule wurde für das Schlagen von Kindern strafrechtlich verfolgt. Ungeachtet dieser Tatsache setzte sich der Politiker für eine Schulpolizei ein. Seine Vision steht in krassem Gegensatz zu der von Minneapolis, wo Schulbezirke nach der antirassistischen Mobilisierung Verträge mit der Polizei auflösten. In den USA wurden die Proteste dadurch ausgelöst, dass die Trump-Regierung nicht auf die verheerenden Auswirkungen des Coronavirus und des institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei reagierte. Obwohl die Roma-Gemeinschaft von Gyöngyöspata und ihre SympathisantInnen gegen den Rassismus der Regierung und den damit verbundenen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz protestierten, ist die Mobilisierung an der Basis schwach.

Im Schatten des EU-Rechts

Öffentliche Debatten in der Europäischen Union konzentrieren sich auf die jüngsten illiberalen Angriffe auf den ungarischen Rechtsstaat und die oppositionellen Kräfte, während Bedenken zu Minderheitenrechten weitgehend unbemerkt bleiben. Zwar hat die Coronakrise das Antiziganismus-Paradigma nicht verändert, aber man könnte berechtigterweise argumentieren, dass es auch das illiberale Paradigma nicht grundlegend verändert hat, sondern lediglich neue Waffen in das Arsenal ihrer Akteure aufgenommen hat. Das Rezept bleibt dasselbe. Im Fall Gyöngyöspata sah der jüngste Vorschlag zur Änderung des Gesetzes über das nationale Bildungswesen vor, sich auf die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse zu berufen. Das Gesetz sollte als Grundlage dafür dienen, künftig keine Entschädigungszahlungen für moralische Schäden, die SchülerInnen zugefügt wurden, zu bezahlen. Vielmehr sollten RichterInnen stattdessen eine Entschädigung in Form von Sachleistungen anordnen. Es ist unnötig zu sagen, dass die Richtlinie die Mitgliedsstaaten verpflichtet, eine Entschädigung zur Verfügung zu stellen, während sie natürlich wirksamere, verhältnismäßigere und strengere Rechtsmittel erlaubt. Der Vorschlag übersieht somit die Verpflichtung der EU-Mitglieder, indem er vorgibt, dem EU-Recht damit angeblich nachzukommen. Der Gesetzesvorschlag stimmt keinesfalls mit dem Zweck der EU-Richtlinie und dem Verfahren überein, auch wenn er auf dem Papier ordentlich aussieht. Erstens: Warum schlägt nicht das Bildungsministerium, sondern ein Abgeordneter vor, die entsprechende Gesetzgebung zu ändern? Es sei denn, er will eine öffentliche Konsultation (eine Form der politischen Umfrage in Ungarn) vermeiden, die nur dann obligatorisch ist, wenn der Vorschlag auf Initiative des Ministeriums erfolgt. Zweitens: Warum wird die Entschädigung für moralische Schäden im Bildungsgesetz und nicht im Zivilgesetzbuch geregelt, wo die Frage doktrinär hingehört? Es sei denn, man wolle verschweigen, dass die vom Fall Gyöngyöspata inspirierte Änderung die einzige Ausnahme der einschlägigen Bestimmungen darstellt. Drittens: Was geschieht mit der Art des moralischen Schadens, der nicht, wie im Vorschlag vorgesehen, mit Sachleistungen kompensiert werden kann? Der Vorschlag zielt offen auf die Roma-Minderheit ab und könnte somit das erste eindeutige »Anti-Zigeuner-Gesetz« der Regierung Orbán werden. Wir sollten nicht zulassen, dass der Fokus auf Corona und der Frontalangriff auf die Rechtsstaatlichkeit die Aufmerksamkeit von der Tatsache ablenkt, dass hier ein rassistisches Gesetz im Entstehen ist. Ein Gesetz, das ungarische BürgerInnen offen in einen sekundären Status verbannt, indem es ihnen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis den Zugang zur Justiz verwehrt.

 

Lilla Farkas ist seit 1998 Mitglied der Budapester Anwaltskammer. Sie hat für verschiedene Menschenrechts-NGOs in den Bereichen Asyl, Einwanderung, Strafjustiz und Diskriminierung gearbeitet und war zwischen 2004 und 2014 an Rechtsstreitigkeiten zur Aufhebung von Segregation beteiligt. Aktuell ist Farkas leitende Rechtspolitikanalystin für die Migration Policy Group, wo sie seit 2005 als Koordinatorin des europäischen Netzwerks von RechtsexpertInnen für Geschlechtergleichstellung und Nichtdiskriminierung tätig ist. Sie besitzt einen LLM vom King‘s College (London), einen Doktortitel in Rechtswissenschaften vom EUI und einen Doktortitel vom Europäischen Hochschulinstitut.

 

Farkas, Lilla: The EU, Segregation and Rule of Law Resilience in Hungary, Verfassungsblog.de, 2020/3/08.

IDMonSite/Belarus: Pavel Chuduk

IDMonSite/Belarus: Pavel Chuduk

ebastian Schäffer, Managing Director of IDM, interviews Pavel Chuduk, founder of the Center for Civil Communications: Who are the people demonstrating in Belarus? What are their main demands? What unites them? Which role does the EU play for the protest movement? Will Lukashenko be successful in securing his power? Pavel Chuduk is taking part in the ongoing mass demonstrations for free elections and the resignation of President Aleksandr Lukashenko in Belarus. On 9. August 2020, he was detained by the police. In a spontaneous interview with IDM during the “March of Unity” on 6. September 2020 he describes the situation on site, reports on police violence and talks about the geopolitical perspective of his home country.

IDM Short Insights 7: Personal impressions from the Belarusian protests

After the presidential election in #Belarus on 9. August 2020, #protests were held in all major cities in the country following the announcement of the results, in which the incumbent Alexander Lukashenko, who has been ruling since 1994, won with 80% of the votes. The candidate of the opposition, Svetlana Tikhanovskaya had to leave the country. The protests have been violently suppressed by the authorities. More than 200 people have been injured, several are reported dead and 50+ are missing. Over 7000 people have been arrested. As we are approaching the fifth week of the protest, Pavel Chuduk – founder of the Center for Civil Communications in Minsk – witnessed the escalation of violence during the march of unity on 6. September 2020, which has the motto „one for all and all for one“.

IDM Short Insights 6 – Presidential Elections in Poland


Malwina Talik comments on the two ballots that led to the narrow victory of the incumbent president of Poland, why the country experiences a visible, serious split in the society and what consequences this might have for the relations towards the European Union.

 

Parliamentary Elections in North Macedonia 2020

 

Online Podiumsdiskussion veranstaltet vom IDM in Kooperation mit der Politischen Akademie und dem Karl-Renner-Institut

Despite the fact that North Macedonia managed to settle the name dispute with neighboring Greece, as well as cultural issues with Bulgaria and got the green light from Brussels to start accession talks, the enthusiasm for Zoran Zaev and his government among the citizens seems to be deflating. How is the current political situation in North Macedonia? Is a reliable prognosis of the upcoming elections possible? Which future developments are likely? The Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM), in cooperation with the Dr.-Karl-Renner-Institut and the Political Academy of the ÖVP, organized the online panel discussion “Parliamentary Elections in North Macedonia”.

 

Introduction:

Mag. Sebastian SCHÄFFER, Managing Director, Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM), Vienna

Briefing on the current situation in North Macedonia: Dr. Gerhard MARCHL, Head of the Department of European Politics, Karl-Renner-Institut, Vienna

 

Panel Discussion:

Sofia Maria SATANAKIS, M.E.S., AIES Research Fellow, Associate Researcher at European Council on Foreign Relations (ECFR), Vienna

Stefani SPIROVSKA, President, Youth Educational Forum, Skopje

DI Milan MIJALKOVIC, Austrian-Macedonian architect, artist and author, Vienna/Skopje

 

Moderation

Sebastian SCHÄFFER, Managing Director, Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM), Vienna