IDM Short Insights 9 – Governmental crisis in Italy

Federica Mangiameli, Trainee at IDM, talks about the exit of Matteo Renzi, leader of the party Italia Viva, from the Italian government led by Giuseppe Conte. This opens a political crisis in the middle of the Covid-19 pandemic. Was it the right moment to attempt to build a stronger coalition? And, as we have seen in various countries in Central and South East Europe, do these frequent changes of government move away voters from traditional democratic institutions?

 

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IDMonSite/Poland: Renata Mieńkowska-Norkiene

IDMonSite/Poland with Renata Mieńkowska-Norkiene

The ruling of the Polish Constitutional Tribunal on a near-total ban of abortion triggered nationwide protests that the country has not experienced since the fall of communism. After two months, the dynamics of protest have changed, and their demands go beyond the pro-abortion cause. Through the perspective of the current demonstrations, we will discuss the condition of Polish democracy and the civil society, the widening cracks in the ruling coalition and the future of relations with the EU. Renata Mieńkowska-Norkiene – professor of political science, sociologist, mediator, living in Warsaw and Luxembourg; associate professor at the University of Warsaw; her two main scientific fields of interests are: European integration and conflict management; Prof. Mieńkowska-Norkiene lectured at University of Vilnius, Liechtenstein-Institut, EURAC European Academy, London School of Economics and Political Science, Université Libre de Bruxelles and SciencePo in Paris; she worked in the European Commission; Prof. Mieńkowska-Norkiene speaks fluently 5 languages; she cooperates with numerous scientific journals (as a reviewer), NGOs (as a member of Program Councils) and TV programs (as a commenting expert).

IDM Short Insights 8 – Presidential elections in Moldova

Sebastian Schäffer identifies three challenges for the pro-European opposition candidate Maia Sandu after her victory in the presidential elections in Moldova held on 15. November 2020.

»Ein Volk von Göttern würde sich demokratisch regieren.«

Wollen wir die Gesellschaft aktiv als BürgerInnen gestalten oder sind wir lieber »teilzeit-politische« UntertanInnen? Die Juristin Kristin Y. Albrecht fragt in ihrem Essay nach der Verantwortung einzelner innerhalb der repräsentativen Demokratie und warnt vor den Folgen der Passivität.

Er muss ein sehr unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Einer, der ein Buch über fortschrittliche Kindererziehung schrieb und seine eigenen fünf Kinder auf der Schwelle von Waisenhäusern abgelegt hat. Der seinen Freunden derart auf die Nerven fiel, dass sie ihn, nachdem sie ihn erst aufgenommen hatten, doch wieder vor die Tür setzten. Und doch verdankt man Jean-Jacques Rousseau bis heute grundlegende Beiträge zu Recht und Philosophie, beispielsweise zum Gesellschaftsvertrag.

Im 18. Jahrhundert, als Rousseau den Satz vom sich demokratisch regierenden Volk der Götter schrieb, war die Demokratie die Ausnahme, die Monarchie der Standard. Auch wenn er wichtige Beiträge zur Demokratietheorie leistete, war Rousseau ihr gegenüber kritisch eingestellt. Nur ein Volk von Göttern wäre in der Lage, den Anforderungen der Demokratie gerecht zu werden. Denn diese verlangt ihren BürgerInnen permanent Wachsamkeit und Engagement ab. Das hat der Philosoph den Völkern Europas nicht zugetraut. Dennoch ist die Demokratie heute in großen Teilen europäische Realität. Rousseau hatte Recht: Eine Demokratie muss gelebt werden. Fortlaufend muss man sich informieren und eine Meinung bilden. Die Demokratie ist die dynamischste Staatsform und braucht aktive BürgerInnen, die ihre Verantwortung niemals vergessen. Etwas Erleichterung verschafft ihnen dabei das Verfassungsprinzip der Repräsentation. An die VertreterInnen kann man Verantwortung abgeben. Das ist aber kein Freifahrtschein, sich zwischen den Wahlen zurückzulehnen, »teilzeit-politisch« zu sein. Eine Demokratie lebt durch das Volk.

Bundesverfassungs-Gesetz, Artikel 1: »Das Recht geht vom Volk aus«

Notwendigerweise ist eine Demokratie auch immer ein Rechtsstaat. In demokratischen Rechtsstaaten regieren sich die BürgerInnen durch das Recht, das sie sich selbst gegeben haben. Die Selbständigkeit und die daraus erwachsene Verantwortung liegt immer bei den BürgerInnen. Vereinfacht ausgedrückt: PolitikerInnen sind der verlängerte Arm der BürgerInnen, nicht deren HerrscherInnen. Vielmehr herrscht das Volk in Form des Rechts. PopulistInnen beschwören gerne eine »Repräsentationslücke« und werfen den etablierten PolitikerInnen vor, das »echte Volk« nicht mehr zu vertreten. Doch alle PolitikerInnen unterliegen den Grenzen des Rechts. Eine Demokratie ist nur so gut wie ihr Volk.

Diese Verantwortung bürdet uns BürgerInnen einiges auf: Die Wahl ist hierbei noch die angenehmste Pflicht und erinnert zugleich die Politik regelmäßig an ihre Rolle, in der sie die Herrschaft des Volkes in Form und Grenzen des Rechts vermitteln. Zur Verantwortung der BürgerInnen gehört aber auch die Pflicht, die Demokratie nur von innen zu verändern. Wer mit der medialen Berichterstattung unzufrieden ist, kann ein eigenes Medium gründen oder einen LeserInnenbrief schreiben. Wer mit den PolitikerInnen unzufrieden ist, kann sich in Parteien engagieren und selbst kandidieren oder auf die Straße gehen und für seine Sache demonstrieren. Jede/r Einzelne hat die Macht, etwas zu verändern. In dieser dynamischen Staatsform geht es weniger darum, bestimmte Werte von oben herab zu vermitteln, sondern vielmehr den Weg ihrer Ermittlung – und das ist der eines gezähmten, kultivierten Streits – zu verteidigen. Eine Demokratie ist weniger ein Ziel als ein Weg.

Braucht es einen »Wahlführerschein«? Aktuell wird gerade bei den Demokratien in Osteuropa oft die Frage gestellt, wie es sein kann, dass Demokratien zu freiheitsgefährdenden Ergebnissen kommen. Warum gerade PopulistInnen gestärkt werden. Die Antworten fallen je nach Perspektive unterschiedlich aus. Was allen Ansätzen gemein ist, ist die Diagnose einer innergesellschaftlichen Distanz. Zwischen wem und warum, ist umstritten: Es sei eine soziale Krise der Entfremdung von »Abgehängten« auf dem Land und einer politischen Elite in den Metropolen, lautet die Analyse des polnischen Rechtsphilosophen Wojciech Sadurski zur Krise in Polen. Oder: Es sei eine ökonomische Krise, die die soziale Schere zwischen dem immer reicher werdenden 1 % der Bevölkerung und allen anderen zunehmend aufspreize. Manche gehen sogar soweit, sich die Entwicklungen damit zu erklären, dass »das Volk« schlichtweg intellektuell zu wenig leistungsfähig sei. Andere Ansätze, wie jener der Sozialphilosophin Martha Nussbaum und des Politikwissenschaftlers und Populismusexperten Jan-Werner Müller, sehen dahinter eine Angst bzw. Furcht. Eine eindeutige Antwort auf die Frage gibt es (im Moment noch) nicht. Wie jede Krise ist auch diese nicht monokausal, sondern so komplex, wie es eine globalisierte Welt erlaubt. Zunehmende ökonomische und soziale Spannungen, national wie international, prägen das letzte Jahrzehnt und werden durch technologische Entwicklungen verstärkt.

Um Antworten auf die Krise zu finden, sind zwei Fragen entscheidend. Erstens: Glaubt man daran, dass das Volk in einer repräsentativen Demokratie hinreichend gute Ergebnisse hervorbringt? »Hinreichend gut« meint hierbei das absolute Minimum: Wollen die auf Zeit Regierenden das Beste für das Volk und setzen sie sich aktiv dafür ein? Wollen sie weder die Demokratie noch den Rechtsstaat abschaffen? Traut man dem Volk eine solche Auswahl von PolitikerInnen nicht zu, liegt die Antwort nahe, die Anforderungen an die Wahlberechtigten anzuheben. Nur wer gut informiert ist und sich nicht zurücklehnt, dürfe darüber entscheiden, wer die Macht erhält. »Wahlführerscheine« würden sicherstellen, dass nur ausreichend qualifizierte BürgerInnen die VertreterInnen wählen. Diese Ansätze vergessen jedoch, dass auch in der Demokratie selektiert wird: Es gibt immer Gewinner und Verlierer einer Wahl. Repräsentative Demokratie beinhaltet auch eine Bestenauslese. Damit man die besten BürgerInnen für politische Ämter findet, müssen sich aber auch möglichst viele engagieren und sie müssen durch ihre MitbürgerInnen unterstützt werden. Wenn man dem Volk also zutraut, solche hinreichend guten VertreterInnen zu finden, dann schließt sich eine zweite Frage an: Ist die Beteiligung aller wichtiger als ein (sachlich) bestmögliches Ergebnis? Die Antwort beinhaltet eine Abwägung: Wer der Beteiligung aller den Vorrang einräumt, wird entweder bei einer Stärkung der direkten Demokratie landen oder auf die radikale Idee kommen, AmtsinhaberInnen auszulosen. Letztere, sogenannte LottokratieTheorien, erfordern einen starken Glauben an die Qualifikation jeder Person für jedes Amt. Es gibt also viele Möglichkeiten, mit denen man eine Verfassung nachbessern kann, aber die jetzige Demokratie bietet bereits viele Instrumente. Das wichtigste davon besteht im gesellschaftlichen Dialog über die Ursachen der ökonomischen und sozialen Spannungen. Dialog meint immer zwei Dinge: die eigene Stimme zu erheben und dem/der Nächsten wirklich zuzuhören. Und im nächsten Schritt auch die Bereitschaft, sich nach dem Konsens zu richten.

Gefährdete Freiheit?

Derzeit werden viele verfassungsrechtliche Strukturen in Europa so verändert, dass den BürgerInnen ihre Macht zunehmend weggenommen wird. Die Säulen der Demokratie – Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit und repräsentative Institutionen – werden teilweise untergraben, die BürgerInnen schleichend entbürgert und zu UntertanInnen reduziert. Man könnte hier von einer Degradierung des citoyens zum burgeois sprechen. Man denke an den Umbau des polnischen Verfassungsgerichtshofs in den vergangenen Jahren, oder an Viktor Orbáns Ausnahmezustand während der Corona-Pandemie, der zeigt, wie leicht die Grundlagen der Demokratie ausgehebelt werden können. Wie angedeutet muss jedoch nicht zwingend die Verfassung geändert werden, wenn man sich in einer Krise wiederfindet. Aber was können (entbürgerte) BürgerInnen machen, wenn ihnen die Voraussetzungen der Demokratie, also ihre Selbstbestimmtheit in Form des Rechtsstaates mit dessen Institutionen, genommen werden? Wenn auch der gesellschaftliche Dialog zur Unmöglichkeit sabotiert wird? Noch ist das nicht der Fall und zudem ist die Demokratie ihren FeindInnen auch nicht wehrlos ausgeliefert. Rousseau schrieb, dass sich der Bürger »in dieser Verfassung … vor allem mit Kraft und Ausdauer wappnen und jeden Tag im Grunde seines Herzens wiederholen (muss): … Ich ziehe eine gefährdete Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor.« Wenn die Freiheit gefährdet ist, müssen die BürgerInnen somit umso mehr zeigen, dass sie keine UntertanInnen sind. Dass sie sich im Rahmen des Rechts erheben, auf die Straße gehen, sich öffentlich äußern, Verantwortung für ihren Staat und ihre Verfassung übernehmen. Dafür braucht es zum Glück keine Göttinnen und Götter.

»Als »syphilis of the law« (Bentham) und »Krücken« (Jhering) verdammt, wird seit über 2000 Jahren immer wieder die Ausrottung von Rechtsfiktionen gefordert. Genauso leidenschaftlich werden sie aber auch als höchst wertvoll verteidigt und sogar zur Grundlage des Rechts (Kelsen) erklärt. Wie passt das zusammen? Kristin Albrecht zeigt auf Grundlage einer historischen und rechtsvergleichenden Analyse, dass man im Recht nicht »der Rechtsfiktion« begegnet, sondern drei unterschiedlichen Typen: Den fiktiven Annahmen, den fiktiven Personen und den fiktiven Rechtsinstituten. Sie entwickelt diese Typen mit philosophischer Gründlichkeit und diskutiert anschließend, was »so troubling« bzw. »beneficial and useful« (Blackstone) an ihnen ist.«

 

Dr. Kristin Y. Albrecht forscht und lehrt als Senior Scientist an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Paris-Lodron Universität Salzburg. Davor hat sie dort als Universitätsassistentin eine Dissertation zum Thema »Fiktionen im Recht« verfasst, welche 2020 im NomosVerlag erschien. Vor dieser Zeit war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des öffentlichen Rechts an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg tätig, wo sie auch ihr Studium absolvierte.

Zwischen Gesetz und Realität: Ukrainische Rechtstraditionen verstehen

Der Osteuropa-Experte Jakob Mischke beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt mit der Rechtskultur in der Ukraine und erforscht ihre Anfänge. In seinem Gastbeitrag erklärt er, warum es wichtig ist, beim Thema Rechtsstaatlichkeit die lokalen Traditionen zu bedenken.

Wenn man sich mit der Rechtskultur der Ukraine näher befasst, fällt auf, wie häufig Gesetze ignoriert, umgedeutet oder umgangen werden, ohne dass den Beteiligten Konsequenzen drohen. Für Fragen der tatsächlichen Rechtsanwendung interessierte sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts auch Stanislaw Dnistrjans’kyj (1870–1935). Der aus Galizien stammende Privatrechtsprofessor unterrichtete an der 1921 im Wiener Exil gegründeten und später nach Prag verlegten »Ukrainischen Freien Universität«.

Das Recht ist lebendig

Der Rechtsgelehrte war überzeugt, dass Recht nicht durch staatliche Gesetzgebung, sondern durch seine Anwendung im Alltag sozialer Verbände entsteht und weiterentwickelt wird. Sein Ansatz war mit dem des Czernowitzer Professors Eugen Ehrlich verwandt, der zu einem der Mitbegründer der Rechtssoziologie wurde. Ehrlich ging von der Beobachtung aus, dass in einzelnen Gemeinschaften vom Staat unabhängige Rechtsregeln entwickelt und gepflegt wurden – das sogenannte lebende Recht. Dnistrjans’kyjs Forderung lautete, dass der Staat bei Gesetzgebung und Rechtsprechung Rücksicht auf diese lokale soziale Wirklichkeit nehmen müsse. Eine zentralisierte Gesetzgebung hielt er für ineffizient, selbst wenn sie durch Parlamente erfolgt. Und das obwohl, oder gerade, weil Dnistrjans’kyj selbst zwei Legislaturperioden im Abgeordnetenhaus des Wiener Reichsrates gesessen hatte und eine Reform des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) anstrebte. Auch RichterInnen sollten bei ihrer Urteilsfindung die lokalen Rechtstraditionen beachten und gegebenenfalls Gesetze, die mit der Realität vor Ort nicht vereinbar waren, außer Acht lassen.

Der Wille des Volkes

Diese Gedanken liegen auch einem Verfassungsentwurf Dnistrjans’kyjs für die Westukrainische Volksrepublik zugrunde, ein Staat, der am Ende des Ersten Weltkriegs kurzzeitig in Ostgalizien existierte, bevor das Territorium vom wiedererstandenen Polen besetzt wurde. Der Entwurf sollte ausdrücklich auf ukrainische politische Traditionen aufbauen, um Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Eine zentrale Eigenschaft dieser Verfassung war das Subsidiaritätsprinzip. Demnach sollen Entscheidungen möglichst in kleinen lokalen Gemeinden gefällt werden, was der ukrainischen Tradition demokratischer Entscheidungsfindung nahekomme. Die aktuellen Dezentralisierungsbestrebungen in der Ukraine hätte Dnistrjans’kyj also auf jeden Fall begrüßt.

Dnistrjans’kyj war sich sicher, dass in der Ukraine nur eine demokratische Staatsform Erfolg haben würde, auch wenn seine Demokratievorstellungen von den heutigen abweichen. Als wesenhaft für die Demokratie sah er nicht Verfahren oder Checks and Balances an. Vielmehr war es ihm wichtig, dass gefällte Entscheidungen mit dem allgemeinen Willen des Volkes im Sinne Rousseaus übereinstimmten. Als älteste Institution ukrainischer Demokratie nannte er das so genannte viče, eine Volksversammlung, die es schon in der mittelalterlichen Kyïver Rus’ gab, aber auch bei den Kosaken Anwendung fand. Diese Volksversammlung lässt einen Anführer dabei so lange gewähren, wie das Volk mit seiner Regierungsführung zufrieden ist. Andernfalls wird der Anführer kurzerhand durch einen neuen ersetzt. Die Parallelen zu politischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte sind deutlich, zeigen aber auch, dass eine solche Demokratie Instabilität bedeutet und dass die Grenzen hin zur Diktatur offen sind. In seinem Verfassungsentwurf setzt Dnistrjans’kyj wohl deswegen dann doch auf ein Parlament als primären Gesetzgeber, räumte aber der direkten Demokratie Raum in Form von Referenden ein.

Sprache und Nation

Auch in der Nationalitätenfrage decken sich Dnistrjans’kyjs Ansichten vor 100 Jahren mit dem heute in der Ukraine dominierenden Konsens. Für die Zugehörigkeit zur ukrainischen Volksgruppe sollte nämlich nicht der Sprachgebrauch das zentrale Kriterium sein, sondern die bewusste Willensäußerung. Konnte es im damaligen Lemberg passieren, dass sich jemand als Ukrainer oder Ukrainerin verstand, obwohl er oder sie im Alltag fast nur Polnisch sprach, so ist es heute ebenso selbstverständlich, als Russisch sprechende Person für die Ukraine einzustehen.

Dass alle politischen Konzepte Dnistrjans’kyjs heute anwendbar wären, darf bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz können seine Überlegungen von damals dabei helfen, das heutige Rechts- und Politikverständnis in der Ukraine besser zu erfassen. Dnistrjans’kyj war es, der erstmals systematisch versucht hatte, den aktuellen Stand der Rechtswissenschaft auf die Rechtskultur der Ukraine anzuwenden und diese mit der Entwicklung einer ukrainischen nationalen Erzählung (Nationalnarrativ) zu verweben. In seinen Ansichten ergeben sich teils erstaunliche Parallelen zu gesellschaftlichen Phänomenen, mit denen die ukrainische Gesellschaft auch heute zu kämpfen hat.

 

Jakob Mischke studierte Osteuropastudien und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und arbeitete danach als Koordinator eines deutsch-ukrainischen Studiengangs an der Nationalen Universität der Kyïver Mohyla-Akademie. Gegenwärtig verfasst er am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien eine Dissertation zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Ukrainischen Freien Universität in der Zwischenkriegszeit.

Rechtsstaatlichkeit als wichtiger Investitionsfaktor

Die COVID-19-Krise stürzte viele Unternehmen in unsichere Gewässer. Am Beispiel der Slowakei erklärt die Ökonomin Doris Hanzl-Weiss, wie rechtliche Unsicherheit das Wirtschaftsumfeld belasten kann.

Die Slowakei ist eine kleine offene Volkswirtschaft und stark vom Außenhandel abhängig. Die Automobil-Industrie ist für rund 32% der Gesamtexporte verantwortlich und gilt damit als zentraler Exporteur des Landes. Sie stützt sich auf vier große ausländische Fahrzeughersteller im Land, darunter VW Bratislava, PSA Peugeot Citroën in Trnava, KIA Motors Slovakia in Žilina und Jaguar Land Rover in Nitra. Stabile wirtschaftliche insbesondere rechtliche Rahmenbedingungen waren und sind wichtige Faktoren für ausländische Investoren. Wie sich ausländische Direktinvestitionen in der Slowakei entwickelt haben und welche Rolle das wirtschaftlichere Umfeld dabei hatte soll hier näher erläutert werden.

Intransparenz unter Mečiar

Die erste Zeit nach Gründung der Slowakei 1993 und dem Zerfall des kommunistischen Systems war gekennzeichnet durch geringe Zuflüsse an ausländische Direktinvestitionen (ADI). Grund dafür war das autoritäre Regime unter Vladimír Mečiar, das zu internationaler Isolation, undurchsichtiger Privatisierung und Klientelismus und in Folge davon zur Abschreckung von ausländischen Investoren führte. Erst 1998 mit der neuen Regierung unter Mikuláš Dzurinda (I und II) und den damit einhergehenden tiefgreifenden Reformen konnte eine Wende erzielt werden. Zwischen 2000 und 2008 betrug der durchschnittliche jährliche ADI-Zuwachs 7,7 % des Bruttoinlandproduktes (BIP), viel höher als in den Nachbarländern Tschechien (5,9%), Ungarn (4,7%) oder Polen (3,6%).

EU-Beitritt förderte Investitionen

Entscheidende Faktoren für den Zufluss waren einerseits die Privatisierungen am Beginn der 2000er Jahre im Bereich Telekommunikation und im Energie- und Finanzsektor. Andererseits wirkte der EU-Beitritt 2004 als Katalysator für neue Investitionen. Besonders wichtige Greenfield-Investitionen, also etwa Neuerrichtungen von Produktionsstätten auf einem neuen oder noch jungen Markt, fanden im Bereich der Automobilindustrie statt. Nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise fiel die Slowakei bei den ADI-Zuflüssen jedoch hinter den Nachbarn zurück: Zwischen 2010 und 2018 konnte sie nur durchschnittlich 1,6% des BIP an ADI-Zuflüssen lukrieren, die anderen Länder zwischen 2,4 % (Polen) und 3 % (Tschechien und Ungarn).

Niedrige Rechtsdurchsetzung als Barriere

Um attraktiv für ausländische Direktinvestitionen zu sein, muss das wirtschaftliche Umfeld konkurrenzfähig und günstig sein. Dieses wird jedoch für die Slowakei Jahr für Jahr schlechter eingestuft. Beispielsweise fiel die Slowakei im Global Competitiveness Index des World Economic Forums 2019 um eine Position zurück und rangiert aktuell auf Platz 42 (von insgesamt 141 Plätzen). Zum Vergleich: Tschechien lag auf Platz 32, Polen auf Platz 37 und Ungarn auf Platz 47. Zwar ist der Business Environment Index des slowakischen Unternehmensverbandes (Business Association of Slovakia – PAS) langfristig angestiegen, seit 2006 befindet er sich allerdings kontinuierlich im Sinkflug. Die EU-Kommission sieht hohe regulatorische Belastungen, niedrige Rechtsdurchsetzung, anhaltende Bedenken zur Unabhängigkeit der Justiz und Polizei, häufige Gesetzesänderungen und Rechtsunsicherheit als Faktoren, die die Wettbewerbsfähigkeit behindern. Eine Umfrage unter ausländischen Investoren in der Slowakei 2019 zeigte, dass die Rechtssicherheit, die Verfügbarkeit von Fachkräften sowie steigende Lohnkosten, die Transparenz der öffentlichen Auftragsvergabe und die Bekämpfung der Korruption zu den am schlechtesten bewerteten Standortbedingungen derzeit zählen.

Reformen in Sicht?

Die COVID-19 Krise hat die Unsicherheit für Unternehmen – nicht nur in der Slowakei – in den ersten Monaten 2020 weiter verstärkt. Es mussten fast täglich neue Vorgaben, Reglungen oder Gesetzesänderungen verfolgt werden. Vorgaben für Hilfsmaßnahmen wurden als kompliziert und intransparent angesehen, z.B. welche Unternehmen anspruchsberechtigt sind und welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um Hilfsmaßnahmen zu bekommen. Aus Angst vor Strafen haben viele nicht um Hilfe angesucht.

Langfristig gesehen könnten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter der neuen konservativen Regierung unter Igor Matovič verbessern. Er hat mit seinem Anti-KorruptionsWahlkampf die letzten Parlamentswahlen im März 2020 gegen die lang amtierende Partei Smer gewonnen. Auf der Agenda der neuen Justizministerin Mária Kolíková steht eine Reform der Justiz. Um die Unvorhersehbarkeit des Gesetzgebungsprozesses zu verbessern, möchte sie indirekte Gesetzesänderungen stoppen, einzelne Gesetze, die miteinander verbunden sind, im Paket und zu einem gemeinsamen Zeitpunkt einführen, sowie das übliche Gesetzgebungsverfahren stärken und respektieren. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die neue Regierung ihre Versprechungen einhalten kann. Wenn es ihr gelingt, das wirtschaftliche Umfeld zu verbessern, wird die Slowakei wieder für Investitionen attraktiver werden.

Alle ADI-Daten basieren auf der wiiw FDI Database: data.wiiw.ac.at

The Slovak Spectator: spectator.sme.sk

European Commission (2020), Country Report Slovakia 2020: ec.europa.eu/info/publications

 

Doris HanzlWeiss ist Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Sie ist Länderexpertin für die Slowakei und befasst sich mit Themen des Strukturwandels und Sektoranalysen. Hanzl-Weiss hat Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und arbeitete an verschiedensten Projekten für internationale Institutionen (z. B. UNIDO, Europäische Kommission vDG Grow, etc.). 

Rechtsstaatlichkeit im Vergleich: »Westliche Arroganz ist fehl am Platz«

Der Rechtswissenschaftler Herbert Küpper kennt die Ecken und Kanten europäischer Rechtsstaatlichkeit. Für Info Europa zeigt er vorhandene Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten auf und fordert beim Blick »nach Osten« mehr Dialog auf Augenhöhe.

Alle Staaten Europas, mit Ausnahme des Vatikans, definieren sich als Rechtsstaaten. EU-Mitgliedern ist die Rechtsstaatlichkeit ein verbindlicher gemeinsamer Wert (Art. 2 EU-Vertrag). Nichtsdestotrotz gibt es in Europa drei Traditionen: die britische rule of law, die französische légalité und den Rechtsstaat des deutschen Sprachraums. Ihnen gemeinsam ist die Überwindung von Willkür durch für alle geltende Regeln. Seit 1945 durchdringen sich diese Traditionen zunehmend. Insbesondere der deutschsprachige »Rechtsstaat« hat auch nach Osten ausgestrahlt. Der Sozialismus beendete alle rechtsstaatlichen Ansätze, denn er lehnte den Rechtsstaat ab. Zwar lebten in den Ländern, die vor dem Sozialismus Rechtsstaaten gewesen waren, unterschwellig rechtsstaatliche Elemente fort. Als Wert war der Rechtsstaat jedoch bis in die 1980er Jahre desavouiert. Westeuropa blieb diese Erschütterung erspart. Hier konnte sich der Rechtsstaat organisch fortentwickeln – abgesehen von dem Kollaps des Rechtsstaats zwischen 1933 und 1945 in Deutschland. Aus der Konvergenz der unterschiedlichen Traditionen, die u. a. durch die Aufarbeitung des NS-Unrechts neue Dimensionen erhielten, bildete sich eine gemeinsame westeuropäische Rechtsstaatsidee, die auch der EU zugrunde gelegt wurde.

Rechtsstaatlichkeit als gemeinsamer Wert

Nach der Wende verkörperte der Rechtsstaat besser als andere Werte die neue Ordnung. Hierbei orientierten sich die »neuen« Rechtsstaaten Osteuropas naturgemäß am Westen. Ihre eigenen Traditionen waren 1990 nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Außerdem wollten die Staaten, die soeben den Eisernen Vorhang überwunden hatten, Teil eines gesamteuropäischen »Raums der Rechtsstaatlichkeit« werden. Hierbei haben die Staaten und Gesellschaften in Osteuropa enorme Anpassungsleistungen erbracht: Von einem Tag auf den anderen wurden Staat, Recht, Gesellschaft und Wirtschaft auf diametral entgegengesetzte Werte umgestellt. Eine der größten Leistungen war der Aufbau eines Rechtsstaats. Rechtsstaat ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess. Ihn in der Verfassung festzuschreiben reicht nicht. Er lebt jeden Tag aufs Neue in Millionen staatlicher Akte, in denen die StaatsdienerInnen der Versuchung widerstehen, willkürlich aufzutreten und/oder sich zu bereichern. Hierzu bedarf es ausgefeilter Gesetze, eines hohen Ethos in einem vernünftig bezahlten öffentlichen Dienst und einer Zivilgesellschaft, die Rechtsstaatlichkeit einfordert. Diesen Herausforderungen haben sich die Staaten Osteuropas, vor allem die neuen EU-Mitglieder, gestellt. Auch wenn die Erfolge unterschiedlich ausfielen und ausfallen, wurde überall Enormes geleistet. Dem widerspricht der aktuelle Abbau des Rechtsstaats in einigen östlichen EU-Staaten wie Ungarn oder Polen nur scheinbar. Dahinter steht unter anderem das Gefühl, die eigenen Leistungen würden von einem besserwisserischen Westen bis heute nicht hinreichend gewürdigt. Deshalb wendet man sich von der ohnehin unerreichbar scheinenden westlichen Rechtsstaatsidee ab und kreiert einen eigenen »nationalen« Rechtsstaat. Der Rechtsstaat wird aus Sicht autoritärer Osteuropäer nicht negiert, sondern modifiziert, zu seinen »echten europäischen« Wurzeln zurückgeführt.

»Moderner« Osten, »veralteter« Westen?

Aufgrund der erwähnten Runderneuerung der Rechtsordnungen seit 1990 besitzen viele osteuropäische Staaten heute Gesetze, die als Ergebnis intensiver Rechtsvergleichung und westlicher Beratungshilfe »modern« sind. Viele westeuropäische Gesetze hingegen sind Jahrzehnte, gar Jahrhunderte alt und weisen trotz ständiger Anpassungen ein Modernitätsdefizit auf. Das gilt auch für Gesetze im Kernbereich der Alltagsrechtsstaatlichkeit, im allgemeinen Verwaltungsrecht. Das österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz wird in fünf Jahren 100. Auch wenn es noch immer die »Mutter aller Verwaltungsverfahrensgesetze« ist, ist sein Reformbedarf unabweisbar. Die deutsche Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 regelt den Zugang der BürgerInnen zum Gericht so umständlich und lückenhaft, dass sie, würde sie heute erlassen, vom Bundesverfassungsgericht wohl aufgehoben werden würde und auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) keine Gnade fände; sie genügt rechtsstaatlichen Ansprüchen nur dank einer richterlichen Praxis, die sich über die Mängel des Gesetzes hinwegsetzt. Zur Behebung des Reformbedarfs alter westlicher Gesetze bietet sich ein Blick nach Osten an: Die dortigen Vorschriften sind dank der sorgfältigen komparativen Vorarbeiten oft Gesetz gewordene moderne »best practices«. Warum also das Rad neu erfinden, warum nicht bei der allfälligen Modernisierung westlicher Gesetze in die Gesetzestexte im Osten schauen? Liefe das Lernen nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Ost nach West, würde das auch dem populistisch ausbeutbaren Gefühl in Osteuropa, nie aus der Rolle des »armen Verwandten« herauszukommen, die Grundlage entziehen.

Voneinander lernen

Die Rezeption von Ost nach West hat allerdings Grenzen. Das alltägliche Rechtsstaatsniveau der Verwaltungen im Westen ist höher als das im Osten. Wo sich dies in den östlichen Gesetzestexten widerspiegelt, zum Beispiel in der Betonung von Top-down-Verfahren und dem Verzicht auf konsensuale Entscheidungsmöglichkeiten wie dem Vertrag zwischen Verwaltung und BürgerInnen, sind sie nicht »modern« genug, um als Inspiration und Gegenstand einer Rezeption zu dienen. Dies sollte und kann in einem West-Ost-Dialog auf Augenhöhe, zwischen gleichberechtigten Partnern, die grundsätzlich etwas voneinander lernen können, geklärt werden. Westliche Arroganz, verbunden mit einem erhobenen Zeigefinger, ist fehl am Platz.

I.Krastev, S. Holmes: The Light that Failed, Allen Lane, London 2019.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper studierte Rechtswissenschaften in Köln und London und absolvierte seine Referendarausbildung in Köln und Budapest. Ab 2003 Wissenschaftlicher Referent, seit 2004 Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München. Forschungsschwerpunkte: ungarisches Recht, postsozialistisches Recht, vergleichendes öffentliches Recht. Lehraufträge in Budapest, Pécs, Szeged, Wien. Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft.

COVID-19 und vorbestehende Grunderkrankungen der Demokratie

Wie gut funktioniert die Demokratie im Notzustand? Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Politik und Rechtsstaatlichkeit in Europa? Der Verfassungsjurist Arkadiusz Radwan wirft einen Blick in das PatientInnenblatt unserer Gesellschaft und warnt vor gefährlichen Grunderkrankungen.

Der Vormarsch der Pandemie durch Europa hat Vieles auf den Prüfstand gebracht: nationales und europäisches Krisenmanagement, die Belastbarkeit unserer Gesundheitssysteme, Solidarität zwischen den Generationen, globale Geschäftsmodelle und Lieferketten, das Dogma der Kapitalverkehrsfreiheit, das Primat des Konsumdenkens und nicht zuletzt auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch hat die Pandemie etwas Neues über die Verfasstheit unserer Gesellschaft und unsere konstitutionelle Ordnung enthüllt? Oder hat sie nur bestehendes Wissen bestätigt? Viele der COVID-bedingten verfassungsrechtlichen Probleme sind überwiegend prozedural-technischer Natur, beispielsweise die reine Briefwahl, die Arbeitsweise der Parlamente in Zeiten von Isolation und Social Distancing, Gerichtstermine via Video usw. Andere Probleme sind teils juristischer, teils politisch-philosophischer Natur: Wie kann der durch den Lockdown entstandene Schaden ersetzt werden? Wie sieht eine gerechte Verteilung der Kosten aus? Die letzte Frage hat auch eine klare europäische Dimension und wirft erneut das Thema der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsanleihen auf.

Notzustand als politische Waffe

Eine Naturkatastrophe wie die Pandemie versetzt unsere Prioritäten und ändert, wie wir Güter gegeneinander abwägen: Sicherheit und Schutz öffentlicher Gesundheit mögen Maßnahmen rechtfertigen, die deutlich weiter in Grundfreiheiten, wie etwa Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, eingreifen, als es unter anderen Umständen denkbar wäre. Legislative und administrative Handlungen werden zusätzlich durch das sogenannte Action Bias intensiviert: Effizientes Krisenmanagement erfordert, dass die EntscheidungsträgerInnen über ausreichende Handlungsspielräume verfügen, die schnelles und flexibles Agieren ermöglichen. In den meisten Fällen ist diese Zielsetzung mit Beachtung herkömmlicher Prozeduren und unter Befolgung demokratischer Meinungsbildungsprozesse aber kaum realisierbar. Der Weg zur Legalisierung von Shortcuts und Bypässen der rechtsstaatlichen Standardverfahren führt üblicherweise durch die Verhängung eines im nationalen Recht vorgesehenen Notstands, beispielsweise eines Ausnahme-, Katastrophen-, oder Epidemiezustandes. Weltweit haben sich ungefähr 100 Staaten bzw. Bundesstaaten oder autonome Regionen im Zuge der Corona-Krise für die Verhängung eines derartigen Zustandes entschieden. Ein Notstand, wie rechtsvergleichend heterogen diese Kategorie auch sein mag, beinhaltet das Recht der Regierung, manche Freiheitsrechte der BürgerInnen vorübergehend einzuschränken oder auszusetzen. Auch die Gewaltenteilung wird geschwächt bzw. teilweise aufgehoben. Da all dies die Macht der Exekutive festigt, liegt die Vermutung nahe, autoritäre Regierungen wären schneller dazu geneigt, States of Emergency einzuführen. Diese Vermutung wird nur teilweise durch komparativ-empirische Untersuchungen belegt: Zwar verhängten Autokratien durchschnittlich schneller und bei einer deutlich niedrigeren Zahl bestätigter COVID-Fälle einen Notzustand, doch im Vergleich zu Demokratien entschieden sie sich insgesamt seltener dafür (Bjørnskov, Voigt). Dies ist dadurch zu erklären, dass der Machtzuwachs der Regierung in Autokratien durch Notzustände geringer ausfällt als in Demokratien. Diverse Variationen von States of Emergency wurden zu Narrativen, die in vielen Ländern unterschiedlich von der Regierung oder Opposition genutzt wurden, je nachdem, wer sich durch die Verhängung des Notzustands begünstigt oder benachteiligt sah. So geriet etwa Ungarns Premierminister Viktor Orbán, der eine rasche Verhängung des Ausnahmezustands herbeigeführt hat, in die Kritik der Opposition sowie des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mit dem Vorwurf, er nutze die Pandemie dafür aus, seine Macht zu konsolidieren. Eine historisch begründete Skepsis wurde auch in Frankreich gegen die Erteilung von außergewöhnlichen Kompetenzen (Pouvoirs exceptionnels) nach Art. 16 der französischen Verfassung für den Präsidenten geäußert. In Polen war es dagegen nicht die Regierung, sondern die Opposition, die die Verhängung des Katastrophenzustandes forderte, um dadurch die Durchführung der verfassungsrechtlich dubiosen Präsidentschaftswahl zu unterbinden.

Wahlen im Schatten der Pandemie

Besonderes Augenmerk gebührt der Wirkung der Pandemie auf Wahlen, da anhand dieser etwaige COVID-Anfälligkeiten der Demokratie am besten illustriert werden können. Die Kommunalwahlen in Bayern wurden in der Stichwahlrunde am 29. März zum ersten Mal als reine Briefwahl organisiert. Ein Schulterschluss aller Fraktionen trotz kurzfristiger Neugestaltung der Regeln sicherte dabei das Vertrauen der WählerInnen und verzeichnete eine bemerkenswerte Wahlbeteiligung. Die local elections im Vereinigten Königreich wurden weitgehend einvernehmlich vom 7. Mai 2020 auf den 6. Mai 2021 verschoben. Die erste Runde der élections municipales in Frankreich (15. März) wurde trotz bestehender Infektionsgefahr mit Akzeptanz aller Parteien durchgeführt, die Stichwahl musste aber aufgrund der verschärften Lage auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Diese Beispiele belegen, dass jede Lösung denkbar ist, wenn die überwiegende Mehrheit der politischen AkteurInnen alle Meinungen berücksichtigt, die Vorgehensweise gemeinsam bestimmt und dabei auf das Vertrauen der BürgerInnen in demokratische Vorgänge geachtet wird. Gegenbeispiele umfassen Polen und Serbien, wo die Pandemie auf unterschiedliche Art und Weise den Wahlprozess beeinträchtigt hat.

In Polen fiel der Ausbruch der Pandemie zeitlich mit der Präsidentschaftswahl zusammen. Die regierende PiS-Partei hatte auf den ursprünglich für den 10. Mai festgelegten Wahltermin beharrt. Die Opposition erklärte sich sehr skeptisch und forderte die Verhängung des Katastrophenzustandes, wodurch die Wahlen automatisch verschoben werden müssten. Über Wochen hinweg dominierte der Streit um Wahltermine die öffentliche Debatte. Die Glaubwürdigkeit der Regierung, etwa zu offiziellen Angaben über bestätigte COVID-19-Fälle, war erschüttert. Meinungsumfragen sahen die polnische Regierung im EU-weiten Vergleich auf dem zweitniedrigsten Rang des Vertrauens-Rankings. Zudem drohte Polen eine jahrelange Demokratiekrise: Falls der Amtsinhaber Andrzej Duda bei rekordniedriger Wahlbeteiligung wiedergewählt worden wäre, hätten hunderttausende WählerInnen die Wahl vor dem Obersten Gericht angefochten. Das Abrutschen Polens ins Chaos konnte schließlich verhindert werden, indem der Stellvertretende Premierminister Jarosław Gowin sein Amt opferte und politische Verluste riskierte. Die Wahlen wurden vom Mai auf Juni verschoben und Polen verzeichnete eine der höchsten Wahlbeteiligungen der letzten 25 Jahre. Was als wahres Fest der Demokratie schien, wurde jedoch durch den ausgeprägten Geist des politischen Tribalismus verdorben. Ähnlich wie in Polen hat sich die Politik in Serbien eher nach politischem Kalkül als nach der Gesundheitspolitik orientiert. Die mögliche Wirkung der Pandemie auf das Verhalten der WählerInnen und die Wahlchancen der Parteien fungierten dabei als wichtigster Wegweiser für die opportunistisch agierenden MachthaberInnen.

Immunität der Demokratie

Kann Demokratie gegen das Virus immun werden? Meine Antwort darauf ähnelt jener der Medizin: Entscheidend sind die vorbestehenden Grunderkrankungen. Dazu zähle ich die politische Polarisierung im Zeitalter der digitalen Demokratie, die Schwäche der Institutionen sowie das niedrige Niveau des sozialen Vertrauens. Die Pandemie hat gezeigt: VertreterInnen gegenteiliger Positionen sehen sich in ihren vorpandemischen Vorstellungen bestätigt und dazu berufen, sie noch stärker zu artikulieren. Während die einen zu mehr Wirtschaftspatriotismus aufrufen, liefern die anderen ein Plädoyer für mehr übernationale Koordinierung. »Nur Nationalstaat« vs. »nur gemeinsames Europa« lauten die Antworten auf die Frage, wer erfolgreich aus der Krise hervorgeht. COVID-19 hat uns nicht verändert, wir sind genauso, wie wir schon zuvor waren, bloß krasser und intensiver. Die Pandemie ist in der Lage, die steigende politische und gesellschaftliche Polarisierung noch weiter voranzutreiben. In ihr sehe ich somit die gegenwärtig gefährlichste Grunderkrankung der Demokratie. Ich fürchte, dass wir früher einen Impfstoff gegen COVID-19 entwickeln, als eine konstitutionell-institutionelle Prophylaxe gegen das Virus der Polarisierung anbieten zu können.

 

Prof. Dr. Arkadiusz Radwan ist Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Professor an der Vytautas-Magnus-Universität Kaunas sowie an der Universität Warschau. Radwan ist Gründer des Allerhand Institute of Advanced Legal Studies in Krakau. Zudem ist er Mitglied des Internationalen Rates des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).