»Die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen«

Gemeinsam mit seinen Kollegen aus Warschau, Prag und Budapest gründete Bratislavas Bürgermeister Matúš Vallo 2019 den Pakt der Freien Städte – mit dem Ziel, sich anti-demokratischen Tendenzen in der Region entgegenzustellen. Der Ukraine-Krieg zeige, wie falsch Viktor Orbáns illiberale Politik sei, so Vallo im IDM-Interview. DANIELA APAYDIN hat mit ihm über die Veränderungskraft von Städten und ihren Allianzen gesprochen.

Mit einiger Verspätung schaltet sich Matúš Vallo zu unserem Zoom-Call hinzu. Er wirkt geschäftig, entschuldigt sich für die Wartezeit. Interviewanfragen von österreichischen Medien seien eher selten, an internationaler Aufmerksamkeit mangele es aber nicht, heißt es aus dem Pressebüro. Vallo spricht fließend Englisch. Er hat in Rom Architektur studiert, in London gearbeitet und erhielt ein Fulbright-Stipendium an der Columbia University in New York. Als politischer Quereinsteiger wurde er 2018 zum Bürgermeister von Bratislava gewählt. Im Herbst kämpft der 44-Jährige um die Wiederwahl zum Bürgermeister.

Herr Vallo, der US-amerikanische Politikberater Benjamin Barber argumentiert in seinem Buch »If Mayors Ruled the World« (2013), dass BürgermeisterInnen wirksamer auf transnationale Probleme reagieren als nationale Regierungen. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer »lokalen Wende« des Regierens und Verwaltens. Leisten Städte und BürgermeisterInnen wirklich bessere Arbeit?

Ich kenne das Buch, und ich glaube an dieses Narrativ. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie Regierungen den Kontakt zu ihrer Basis verloren haben. Als Bürgermeister kann ich diesen Kontakt nicht verlieren, selbst wenn ich das wollte. Alle guten BürgermeisterInnen, die ich kenne, gehen gern durch ihre Stadt und treffen Menschen. Manchmal halten sie dich an und erzählen dir von einem Problem. Als BürgermeisterIn bist du ein Teil der Gemeinschaft. Du kannst nicht nur leere Versprechungen geben. Du musst Ergebnisse vorweisen können. Städte sind auch flexibler und ergebnisorientierter als nationale Regierungen. BürgermeisterInnen sorgen für die Qualität des öffentlichen Raums. So ist zum Beispiel die Anzahl der Spielplätze in einem Bezirk sehr wichtig. Das klingt simpel, aber der öffentliche Raum ist ein Schlüsselelement dafür, wie die Menschen ihr Leben gestalten.

Sie sind einer von vier Bürgermeistern, die den Pakt der Freien Städte (englisch: Pact of free Cities) unterzeichneten. Damit positionierten Sie sich gemeinsam mit Budapest, Prag und Warschau als pro-europäisches und anti-autoritäres Städtebündnis. Mit welchen Absichten sind Sie dieser Allianz damals beigetreten und wie würden Sie deren Erfolge heute bewerten?

Der Pakt wurde als ein Bündnis der VisegradHauptstädte geschlossen, um ein Gegengewicht zu den antidemokratischen und illiberalen Kräften zu bilden. Wir sind durch unsere Werte verbunden. Wir wollen den Populismus bekämpfen, Transparenz fördern und bei gemeinsamen Themen wie der Klimakrise zusammenarbeiten. Natürlich gab es schon vorher Bündnisse zu verschiedenen Themen, aber dies ist vielleicht das erste Mal, dass diese Werte im Mittelpunkt stehen.

Der Pakt der Freien Städte wurde am 16. Dezember 2019 an der Central European University in Budapest unterzeichnet. Wenig später mussten die meisten Abteilungen der Universität aufgrund politischer Repressionen nach Österreich umziehen. Erst kürzlich wurde Viktor Orbáns nationalkonservative Fidesz-Partei wiedergewählt. Ist der von Orbán propagierte Illiberalismus wieder auf dem Vormarsch? Wie reagieren die BürgermeisterInnen des Paktes darauf und wie unterstützen Sie sich gegenseitig?

Der Illiberalismus ist auf dem Vormarsch, einige führende PolitikerInnen konnten zurückschlagen, aber die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen. Der jüngste Sieg von Viktor Orbán ist ein Beweis dafür. Wir sehen, dass die illiberale Demokratie bestimmten Gruppen oder einzelnen BürgerInnen Vorteile verschafft. Wir sehen aber auch, dass die Situation in der Tschechischen Republik anders ist und dass in Polen bald Wahlen stattfinden werden. Warschaus Bürgermeister, Rafał Trzaskowski, ist eine große Hoffnung für uns alle. Auch in der Slowakei haben wir eine pro-europäische Regierung und ich freue mich darüber, wie sie die Dinge regelt, um der Ukraine zu helfen. Von dort, wo ich jetzt sitze, sind es nur sechs Autostunden bis zur ukrainischen Grenze. Dieser Krieg zeigt auch, dass Orbán im Unrecht ist. Seine Unterstützung für Russland bedeutet auch die Unterstützung eines Regimes, das unschuldige Menschen tötet. Wo sehen Sie die konkreten Vorteile in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen BürgermeisterInnen und Städten? Da gibt es zwei Ebenen: Erstens geht es darum, miteinander zu reden. Bratislava ist die kleinste Stadt unter den Gründungsmitgliedern. Daher waren wir sehr froh, als wir in den ersten Wochen des Ukraine-Krieges die Bürgermeister von Warschau und Prag um Know-how und Ratschläge bitten konnten. Ich bin nach Warschau geflogen und habe mich mit dem Bürgermeister darüber beraten, wie sich die Stadt darauf vorbereitet. Der Pakt bietet eine sehr konkrete und direkte Möglichkeit, Wissen auszutauschen. Die zweite Ebene ist die Bildung eines Bündnisses von BürgermeisterInnen mit den gleichen Werten, die auch bereit sind, auf europäischer Ebene für diese Werte zu kämpfen. Durch die Pandemieerfahrung ist die Position der Städte noch stärker als zuvor. Ich glaube, dass in vielen Ländern die Städte und ihre BürgermeisterInnen die Situation gut meisterten. Die Menschen nehmen die Städte als ihre Partner wahr. Deshalb ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln und mit einer klaren Stimme zu sprechen.

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In Medienberichten wurden die Gründungsmitglieder des Pakts auch als »liberale Inseln in einem illiberalen Ozean« dargestellt. Diese Metapher birgt jedoch die Gefahr, bereits bestehende Gräben zwischen der urbanen, oft liberaler eingestellten, Bevölkerung und konservativeren BürgerInnen in ländlichen Gebieten zu vertiefen.

Ich verwende diese Metapher nie, und ich versuche auch nicht, diese Spaltung vorzunehmen. Ich bin mir über meine Werte im Klaren, aber als Bürgermeister setze ich mich für Dinge ein, die allen zugutekommen, etwa Spielplätze oder bessere öffentliche Verkehrsmittel. Das ist keine Frage von konservativen oder liberalen Werten. Wir haben Prides in Bratislava, aber wir unterstützen auch die OrganisatorInnen eines großen Treffens der christlichen Jugend. Ich arbeite mit konservativen und liberalen KollegInnen zusammen. Ich weiß, dass das schwierig sein kann, aber wir versuchen, die Menschen zu verbinden. Einige PolitikerInnen nutzen die Spaltung aus, weil sie wollen, dass sich die Menschen streiten, aber ich möchte lieber für eine gute Lebensqualität arbeiten.

Wenn Sie sich von der nationalen Regierung etwas wünschen könnten, das die Städte stärken würde, was wäre das?

Unser Verhältnis zur slowakischen Regierung ist nicht ideal. Auch nach COVID sieht man uns nicht als Partner. Wir brauchen klare Regeln und mehr Finanzmittel, denn im Vergleich zu anderen europäischen Städten sind wir sehr unterfinanziert.

 

Interview mit Daniela Apaydin und Matúš Vallo. Matúš Vallo ist ein slowakischer Politiker, Architekt, Stadtaktivist, Musiker und Bürgermeister von Bratislava. 2018 wurde er als unabhängiger Kandidat mit 36,5 Prozent der Stimmen an die Spitze der slowakischen Hauptstadt gewählt. 2021 zeichnete ihn der internationale Thinktank City Mayors mit dem World Mayor Future Award aus.

Route neu berechnen

Was tun, wenn eine Wanderausstellung vor geschlossenen Grenzen steht? Mit den Absagen von physischen Events wuchs das Projekt Kunst am Strom über sich und die Grenzen der analogen Welt hinaus. Ein Bericht von MÁRTON MÉHES.

Alles hat so gut angefangen: »Das internationale Kunstprojekt ‚Kunst am Strom‘ führt Kunstpositionen, KünstlerInnen und KuratorInnen aus dem Donauraum zusammen (…). Ziel des Projekts ist der Dialog von verschiedenen Kunstpositionen aus den Donauländern, die in einer Wanderausstellung (…) in acht Städten der Region gezeigt werden. Darüber hinaus werden sich KünstlerInnen und KuratorInnen aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien im Rahmen von Symposien begegnen, sich austauschen und Netzwerke bilden.« Soweit ein Zitat aus der Projektbeschreibung, verfasst Mitte 2019. Im Nachhinein merkt man dem Text ein gewisses Selbstbewusstsein an: Wir planen etwas und setzen es dann um – was soll da schon schiefgehen? Nur wenige Monate später, im Mai 2020, schlugen wir im Einführungstext zu unserem Ausstellungskatalog bereits ganz neue Töne an: »Angesichts der aktuellen Klimakrise und der Fragen der post-epidemischen ‚Weltordnung‘ ist der Donauraum mit der Herausforderung konfrontiert, Vergangenheitsbewältigung und die Entwicklung von Zukunftskonzepten gleichzeitig voranzutreiben. Die historischen Erfahrungen aus dieser Region könnten dabei auch hilfreich werden. Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen.« Unser Selbstbewusstsein ist verpufft. An seine Stelle sind offene Fragen, Herausforderungen und eine ungewisse Zukunft getreten. Die Wanderausstellung Kunst am Strom, die auf viele Treffen, Grenzüberschreitungen, Eröffnungsevents und den persönlichen Austausch setzte, war in der Pandemie-Realität angekommen.

Unerwartete Blickwinkel

Von nun an kamen sich ProjektleiterInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen wie ein Navigationsgerät vor, das die Route ständig neu berechnen muss, und dennoch nie ans Ziel kommt. Von den ursprünglich geplanten drei Ausstellungen konnten 2020 zwar immerhin noch zwei (im Museum Ulm und auf der Schallaburg) veranstaltet werden, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. In Ulm fand sie ohne den großangelegten Kontext des Internationalen Donaufests statt, und auf der Schallaburg musste sie wegen des erneuten Lockdowns Wochen früher schließen. Ursprünglich hätte die Schau 2021 an weiteren fünf Stationen Halt gemacht – möglich war lediglich eine Veranstaltung in Košice im Herbst 2021, unter Einhaltung strengster Hygiene- und Sicherheitsregeln. Mitte des Jahres 2021 war allen Beteiligten klar, dass das Projekt verlängert werden muss, was dann von den FördergeberInnen auch genehmigt wurde. Spätestens im Sommer hätten sich also alle zurücklehnen können, nach dem Motto »Wir sehen uns nach der Krise…« Doch bald stellte sich heraus, dass der Satz aus dem Katalog von allen Beteiligten ernst gemeint war: Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen. Im April 2021 fand ein Online-Symposium mit den KuratorInnen statt, um gemeinsam auf innovative, aber rasch und unkompliziert umsetzbare Austauschformen im virtuellen Raum zu setzen. Das Meeting funktionierte gleichzeitig als Ventil: KuratorInnen schilderten die Lage in ihren Städten und die teils dramatische Situation der jeweiligen Kunstszene. Im Mai folgte dann Studio Talks. Die KünstlerInnen wurden im Vorfeld gebeten, ihre Arbeit, ihre Ateliers, ihre Stadt und ihr Lebensumfeld in kurzen Video-Selbstportraits festzuhalten. Diese Videos wurden dann im Laufe der Veranstaltung gezeigt und von den teilnehmenden KünstlerInnen live kommentiert. Aus diesen Videos ist ein einzigartiges Panorama künstlerischen Schaffens im Donauraum entstanden.

Unzertrennliche Welten

Durch die gewonnene Zeit hat die Projektleitung einen Audio-Guide zur Ausstellung produzieren lassen. Auch die Facebook-Seite wurde zu einer wichtigen Präsentationsplattform weiterentwickelt. Die teilnehmenden KünstlerInnen stellten sich mit einem kurzen Werdegang sowie dem Link zu ihren Studio Talks-Videos vor. Ohne diese verstärkte Online-Kommunikation hätte das Projekt nie ein so breites Publikum erreicht. Die Studio Talks und Online-Kampagnen haben unsere physische Ausstellung nicht ersetzt. KünstlerInnen und Publikum freuen sich mehr denn je auf die Veranstaltungen vor Ort. Kunst am Strom ist durch die Pandemie vielschichtiger, informativer und spannender geworden. Eine Entscheidung zwischen »nur analog« oder »nur digital« kann es nicht mehr geben: Beide Welten sind endgültig unzertrennlich geworden und ergeben nur noch gemeinsam ein ganzes Bild.

Für das von Dr. Swantje Volkmann (DZM Ulm) und Dr. Márton Méhes geleitete Projekt Kunst am Strom wählten die KuratorInnen KünstlerInnen aus Ländern und Städten entlang der Donau aus, die zwei Generationen repräsentieren. Das Projekt wird vom Museum Ulm getragen und von mehreren Kooperationspartnern mitfinanziert.

Termine 2022:
27. April–11. Mai: Zagreb
11.–24. Juni: Timișoara
8.–21. August: Novi Sad
12. Oktober–2. November: Sofia

 

Dr. Márton Méhes (*1974) ist promovierter Germanist, ehem. Direktor des Collegium Hungaricum Wien und arbeitet heute als Lehrbeauftragter der Andrássy Universität Budapest sowie als internationaler Kulturmanager in Wien. Seine Schwerpunkte sind Kulturdiplomatie, europäische Kulturhauptstädte und Kooperationsprojekte im Donauraum.

Ist das jetzt schon Zukunft?

Für MARTIN BOROSS bietet die Pandemie eine Gelegenheit für den »kreativen Neustart im Gehirn«. Warum zeitgenössisches Theater neben guter Technik auch regionales Bewusstsein braucht, erzählt der ungarische Theatermacher im Interview mit ANITA GÓCZA.

Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf Ihre Arbeit? Haben Sie eine digitale Revolution erlebt?

Wir alle mussten darüber nachdenken, ob es irgendeinen Aspekt unserer Arbeit gibt, der auf den Bildschirm übertragen werden kann. Für mich lautete die Frage: Können wir etwas auf dem Bildschirm erschaffen, können wir die Leute so sehr begeistern, dass sie ein Online-Theaterereignis statt Netflix wählen würden? Ich habe das als eine Herausforderung angenommen, die neue Qualitäten, Dramaturgien und Ästhetiken hervorbringen kann. Wenn man sein Gehirn im kreativen Prozess nicht neu starten kann, führt das nur zu Kompromissen. Anfangs dachte man, dass es sich um eine vorübergehende Phase handelt, aber jetzt denken viele, dass vieles bleiben könnte.

Ob vorübergehend oder nicht, Ihre Premiere des Stücks Addressless führten Sie Mitte Januar 2022 im Rattlestick Playwrights Theatre in New York durch, als Online-Version.

Wir haben im Januar des Vorjahres entschieden, diese Aufführung online zu zeigen. Damals dachten wir nicht, dass COVID in einem Jahr noch eine Rolle spielen würde. Das Hauptargument für die Online-Version war, dass wir so ein größeres Publikum als das in Manhattan erreichen wollten. Ein weiterer ausschlaggebender Faktor war, dass die Form der Aufführung eine immersive, interaktive Erfahrung ermöglicht, genau wie bei einem Computerspiel. Daher ist das Online-Format zu hundert Prozent dafür geeignet. Während der ersten Welle der Pandemie wurde oft gesagt, dass kleine Theaterkollektive durch die Online-Streams ihr Publikum vervielfachen können. Ist das in Ihrem Fall passiert? Ja, absolut. Letztes Jahr haben wir die Aufführung Ex Cathedra für zwei Plattformen entwickelt: Wir haben sie live im Theater gezeigt und sie auch online gestreamt. So konnten wir viel mehr Menschen erreichen. Uns war es auch wichtig, dass das Theater für Menschen, die auf dem Land leben, zugänglich wird. Aus den Statistiken ging hervor, dass viele im Ausland lebende UngarInnen die Online-Show gesehen haben. Und es gab noch einen weiteren Bonus: Die Online-Version wurde Teil einer ungarischen Theater-Streaming-Plattform, auf der man aus den Aufführungen einer Vielzahl ungarischer Theater auswählen konnte. Auf diese Weise konnten viele Menschen, die zuvor keine unabhängigen, experimentellen Aufführungen besucht hatten, daran teilhaben.

Ist so eine Streaming-Plattform auch auf internationaler Ebene vorstellbar? Etwa eine Seite, die Theatererlebnisse aus ganz Europa anbietet?

Es wäre toll, wenn wir die Möglichkeit hätten, unsere Online-Aufführungen einem europäischen Publikum zu zeigen. Um auf die ungarische Plattform zurückzukommen: Wir waren die erste Gruppe, die englische Untertitel für den Stream gemacht hat. Aber man darf nicht vergessen, dass die Erstellung von Online-Versionen einer Aufführung eine Menge Geld kostet, auch wenn es sich nur um einen Livestream handelt. Dazu braucht es viele Kameras, Schnitt, Nachbearbeitung, Untertitel. Ich würde es begrüßen, wenn verschiedene europäische FördergeberInnen dies unterstützen würden.

Also erleben wir eine Umbruchszeit im Theater?

All das ist wieder eine Frage der Bewertung der gegenwärtigen Situation: Betrachte ich sie als etwas Vorläufiges oder nicht. Es könnte eine wichtige Lektion für Europa sein, zu lernen, in Zeiten der Wirtschaftskrise in kleineren Projekten zu denken, sich aktiv auf lokale PartnerInnen zu verlassen und das Publikum als MäzenInnen zu betrachten, die sich an der Arbeit des Theaters beteiligen wollen. Wir experimentieren weiter mit dem Internet. Am Ende des letzten Sommers entwickelten wir einen ortsspezifischen performativen Doku-Spaziergang (Colony – escape stories) in einer ehemaligen Tabakfabrik in Budapest. Wenn er das nächste Mal im Frühjahr gezeigt wird, werden die Leute die Möglichkeit haben, auch ein Ticket für die Online-Version zu erwerben.

Wie kann ich mir einen Online-Spaziergang von zuhause aus vorstellen?

Ich weiß, das klingt wie ein Widerspruch in sich, aber das ist es nicht. Natürlich haben wir erhebliche Änderungen vorgenommen, die Schwerpunkte werden anders sein: Die OnlineVersion wird viel stärker von einer bestimmten Geschichte bestimmt sein. Der Hauptgrund für die Schaffung dieser Alternative war die Tatsache, dass nur 25 Personen an der eigentlichen Wanderung teilnehmen können. Es gab aber immer eine größere Nachfrage. Ich bin überzeugt, dass eine Online-Version immer das Ergebnis einer erheblichen Anpassungsarbeit ist. Je mehr man den gleichen Effekt auf dem Bildschirm erreichen will, desto mehr ist das Ergebnis zum Scheitern verurteilt. Und es gibt immer Konzepte/Genres, die sich leichter auf den Bildschirm übertragen lassen.

Welche Strategien setzen Sie ein, um die ZuschauerInnen am Bildschirm zu fesseln?

Wenn man online arbeitet, muss es entweder visuell fesselnd oder interaktiv oder sehr persönlich und charakterorientiert sein, um die Form zu legitimieren. Technisch ist das zum Beispiel durch Nahaufnahmen möglich. Es schafft immer eine besondere Intimität, wenn die SchauspielerInnen in die Kamera sprechen als ob sie einem direkt in die Augen schauen. Mein Ziel ist es, eine Situation zu schaffen, in der die ZuschauerInnen zu AkteurInnen und SchöpferInnen werden und so in den Raum der Performance hineingezogen werden. Im Fall von Addressless bilden die ZuschauerInnen verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen, die in Breakout-Räumen auf Zoom miteinander kommunizieren. Der Fortschritt des Spiels wird durch ihre Entscheidungen gesteuert. Auch der häufige Wechsel verschiedener Elemente und Genres – Animation, Grafikdesign, musikalische Effekte und Videos – spielt eine wichtige Rolle für die Wirkung. Ein weiterer bedeutender Faktor für die endgültige Form ist die Bearbeitung, da sie eine Art des Geschichtenerzählens darstellt. Die Plattform selbst ist ebenfalls wichtig für den Erfolg. Ich kann mich an ein Projekt eines ungarischen Komponisten erinnern, die Geiseloper von Samu Gryllus in Zusammenarbeit mit Brina Stinehelfer. Sie nutzten dafür eine spezielle Plattform (SpatialChat), die sich für die Bewegung im virtuellen Raum gut eignet. Wer das Theater-Erlebnis maximieren will, muss sich mit den technischen Möglichkeiten vertraut machen.

Die Pandemieerfahrung hat auch unser Gemeinschaftsgefühl beeinflusst. Können wir heute von einem gemeinsamen Europa sprechen?

Die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Europas ist riesig, und es gibt keine Hoffnung, aufzuholen, in dem Sinne, wie wir UngarInnen es uns vor 30 Jahren vielleicht vorgestellt haben. Aber ich denke auch, dass es von Zeit zu Zeit sinnvoll ist, die Richtung zu hinterfragen, in die wir gehen. Es scheint nicht zu funktionieren, wenn wir versuchen, eine »billige Kopie« der westlichen Welt zu werden. Ich würde es nicht als Euroskeptizismus bezeichnen, aber es wäre gut, wenn wir die Dualität von Ost und West vergessen würden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns mehr auf regionale Zusammenarbeit konzentrieren sollten. Wir bereiten gerade eine Kooperation mit einem kleinen Stadttheater in Kyjiw vor, und wir haben einige Erfahrungen dieser Art in Cluj-Napoca gemacht. Wir wollen uns nicht nur auf die Creative-EuropePartnerschaften etwa mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden stützen. Wir stehen jetzt an einer Weggabelung. Ich hoffe wirklich, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht zu provinziellen, geschlossenen Gesellschaften ohne echte Zusammenarbeit und gemeinsames Denken führen werden.

(Das Interview wurde im Jänner 2022 geführt)

 

Martin Boross (*1988) ist ein ungarischer Theaterregisseur, Autor und Schauspieler. Er erwarb sein Diplom in Dramaturgie an der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest. Seit 2011 hat er 20 Theateraufführungen inszeniert. Seine Werke wurden von Theatern in 36 Städten in 11 Ländern aufgeführt. Aktuell leitet er das Budapester Kollektiv für zeitgenössisches Theater STEREO AKT.

Anita Gócza (*1970) arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturellen Themen sowie als Dozentin für Online-und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.

Ungarn nach den Wahlen 2022

Ungarn nach den Wahlen 2022

Online Podiumsdiskussion veranstaltet vom IDM in Kooperation mit der Politischen Akademie.

Begrüßungsworte Michael Fazekas, Executive Coordinator der Southeast European Cooperative Initiative (SECI), Sebastian Schäffer, Geschäftsführer des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

Briefing über die aktuelle Lage in Ungarn Daniela Apaydin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

 

Podiumsdiskussion:

Daniela Apaydin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

Melani Barlai, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Andrássy Universität Budapest

Dániel Mikecz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

 

Moderation:

Daniel Martínek, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

Putin im ungarischen Wahlkampf

Putin im ungarischen Wahlkampf

Im Gastbeitrag für den Eastblog – Universität Wien und DER STANDARD erklärt unsere Kollegin Daniela Apaydin, die Rolle Russlands in ungarischen Wahlkampf. Die vollständige Analyse können Sie hier lesen.