Musik und Ekstase gegen die Traurigkeit

SHMUEL BARZILAI ist seit mehr als 30 Jahren Oberkantor der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) am Stadttempel. Für INFO EUROPA gibt er einen Einblick in die Rolle der Musik im Chassidismus und verrät, was sich hinter der religiösen Ekstase verbirgt.

Eine jüdische Erzählung berichtet von Rabbi Schabtai, einem sehr armen Buchbinder aus einer polnischen Kleinstadt. Trotz all seiner Arbeit konnte er am Schabbat nicht mehr als etwas Brot und gesalzenen Fisch für das gemeinsame Fest aufbringen. Doch der Rabbi blieb trotz aller Widrigkeiten fröhlich und hatte die Angewohnheit, an jedem Schabbat mit großer Freude zu tanzen. Er lebte zur gleichen Zeit wie Israel ben Eliezer (1700–1760), bekannt als »Baal Schem Tov« (Meister des guten Namens), dem Begründer des Chassidismus. Dieser sah die Tänze von Rabbi Schabtai und sagte ihm, dass er als Verdienst für seinen freudvollen G-ttesdienst* einen Sohn zeugen werde, der die Augen Israels erleuchten wird. Und tatsächlich wurde dem armen Buchbinder ein Sohn geboren, der später einflussreiche Lehrer und Prediger Israel Hopstein von Kozienice. Überlieferungen wie diese zeigen, wie zentral das freudvolle Musizieren und Singen im Chassidismus ist.

Die jüdische Erneuerungsbewegung wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa gegründet und bildet bis heute einen wichtigen Teil des Judentums. Im Chassidismus sind nicht nur das Studium der Tora, sondern auch kleine Taten (als Dienste an G-tt) von wichtiger Bedeutung. Den G-ttesdienst mit Freude zu verrichten, ist eine Idee, die das äußere Erscheinungsbild des Chassidismus stark prägt. Die Literatur ist voll von Lehren, die diese Absicht zum Ausdruck bringen. Viele im Umfeld des Chassidismus erklärten sie sogar zu einer der Neuerungen, die der Chassidismus brachte, und zu einem seiner typischsten Charakterzüge. Musik ist ein zentraler Ausdruck dieser Freude. Dem Musikforscher Abraham Zvi Idelson (1882–1938) zufolge bestehe der wesentliche Wert der Melodie darin, dass sie zu einem Erwachen und einer Freude führe, denn die Traurigkeit stamme von der »anderen Seite« (Sitra achra). Der Gesang hilft dabei, die Traurigkeit in unserem Inneren zu vertreiben. Denn nur ein G-ttesdienst mit Freude ist ein vollständiger Dienst, und dazu braucht es Gesang und Melodie.

Geschichte und Gegenwart

Blicken wir zurück in die lange Geschichte des Judentums, bildeten Instrumente und Gesang schon früh Fixpunkte des G-ttesdienstes. Im Tempel wurde der Gesang von den diensthabenden Lewiim ausgeführt. Sie sangen im Tempel Gesänge des Dankes und des Lobes, während das tägliche Opfer gebracht wurde, wie im »Buch der Chronik« geschrieben steht. Ihr Gesang im Tempel wurde von Musikinstrumenten begleitet, von Flöte, Harfe und Lyra, von Pauke und verschiedenen Zimbeln. Dieser Gesang der Lewiim wurde nicht als »Hintergrundmusik« verstanden, sondern war integraler Bestandteil des G-ttesdienstes und nach der Meinung von Rabbi Meir konnte er sogar das Opferritual verzögern, wie es im Traktat Erechin des Talmud heißt. Aus dem Tempel wanderte der Gesang in die Synagoge. Sie ist der öffentliche Versammlungsort für das dreimal täglich zu verrichtende Gebet, für die Gebete am Schabbat und Feiertag, für das Lernen der heiligen Bücher (wie Tanach, Mischnah, Talmud etc.), aber auch für verschiedene Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Die Synagoge entwickelte ihre Bedeutung im Exil und wurde zum Mittelpunkt des geistigen, moralischen und öffentlichen Lebens des Volkes, sie diente als Befestigung seines Bestehens, und ist gewiss bis heute ein Ort der Ehre und Pracht der Gemeinde Israels. Jedes öffentliche Ereignis und jede Versammlung von Tora-Lernenden, Persönlichkeiten des Gemeindelebens oder Versammlungen des Volkes zu Zeiten der Freude oder der Not hatten ihren Platz in der Synagoge. Das liturgische Rezitativ war und ist die wichtigste Disziplin des Vorbeters. Er macht von verschiedenen traditionellen melodischen Mustern Gebrauch, von denen einige festgelegt, andere flexibel sind. Als Oberkantor habe ich neben der traditionellen Musik auch viele neue Melodien in den G-ttesdienst mitgebracht, damit möglichst viele Gemeindemitglieder mitsingen können. Ich finde, wenn man zusammen singt, kommt nicht nur viel Freude auf, sondern alle fühlen, dass sie nicht nur passiv, sondern aktiv mitbeten können. Ich habe auch einen Kinderchor gegründet. Er singt zusätzlich zu dem Erwachsenenchor an jedem Schabbat und Feiertag. Der Kinderchor bringt frischen Wind und Freude in die Gemeinde und in die Familien, in denen diese Melodien gesungen werden.

Bedeutungsvolle Tänze

Neben dem Gesang spielt auch der Tanz eine wichtige Rolle im Chassidismus. Die religiöse Ekstase, die mit dem Tanz erstarkt und aufsteigt, lässt die Tanzenden die Welt um sie herum vergessen und erhebt sie zum Himmel. Dahinter steht die Überzeugung, dass der G-ttesdienst im Tanz nicht nur mit der Seele geschieht, sondern auch mit dem Körper. Die Freude ist nicht nur in Geist und Seele, sondern auch zur Gänze in uns und unserem Körper. Für diesen Augenblick der Ekstase ist es uns Menschen möglich, unseren Geist nach oben zu erheben und uns mit G-tt zu verbinden. In einem Interview, das ich mit dem ehemaligen Oberrabbiner von Österreich, Rabbi Chaim Eisenberg, führte, brachte der Rabbiner weitere Erklärungen über die Bedeutung von Tänzen im Chassidismus vor: »Zum Beispiel beim Simchat Tora, wenn man mit der Tora in einem Kreis tanzt, so heißt das, man hat den Kreis der Tora-Lesung beendet. Eine andere Erklärung ist, dass im Kreis alle gleich weit von der Mitte sind, und die Mitte ist das Zentrum, und Zentrum ist die Tora, oder der liebe G-tt, und wir sind gleich weit und sollen nicht glauben, der eine ist nahe und der andere ist weit. Diese Tanzbewegungen haben viel zu bedeuten, Tanz ist viel mehr als Disco.«

*G-tt ist eine von mehreren Schreibweisen im Judentum, um das Wort Gott zu vermeiden. Besonders orthodoxen Jüd*innen ist es wichtig, den Namen nicht auf einen menschlichen Begriff zu reduzieren.

 

Mag. Shmuel Barzilai ist Kantor und Komponist, geboren in Jerusalem. Er studierte an der Yeshiva »Beer Yaakov«, K‘nesset Chiskijahu und Hevron, am Rabbiner College in Givataim (Israel), am Institut für Kantoren-Gesang der Stadt Tel Aviv sowie Philosophie und Judaistik an der Universität Wien. Seit 1992 ist er als Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig.

European Elections 2024: What to expect in Central and Eastern Europe

 

The EU has recently approved the dates for the next European parliamentary elections for 6-9 June 2024. On these dates, the Europeans will determine who will sit in the European Parliament for the next five years (2024–2029). The elections simultaneously imply changes in the political leadership in other EU institutions, including the Commission.

Apart from 223 Central and East European (CEE) members of the European Parliament (who constitute 32% of all MEPs), eight of the twelve commissioners from CEE have a low chance of being re-elected. Given this rather significant future re-structuring, one would expect that the discussions about European affairs will heated and the race for European posts competitive.

Here is what you need to know about the patterns and preferences in CEE when it comes to EU elections.

First, despite positive attitudes about the EU membership, the turnout in EU elections is historically low. On average 56% of CEE respondents say their country’s membership of the EU is a good thing. This is only 5% below average for the EU27. But while the EU average is 50.6% (in the 2019 elections),  turnout in the last EU elections was only 38.8% in CEE.

Respondents are most likely to think that EU membership is a good thing for their country in Lithuania (79%), Estonia (66%) and Poland and Latvia (both 65%) compared with 42% in Austria, 46% in Romania and 44% in Slovakia. The highest election turnout is registered in Austria (60%), Lithuania (53%) and Romania (51%). This is in contrast to Slovakia (23%), Czechia and Slovenia (29% each) and Croatia (30%), where the numbers are the lowest.

Interestingly, in Austria, where the EP election turnout (60%) is the highest, the country has the fewest people (42%) in the whole of CEE think who think EU membership is a good thing. Similarly in Romania, while 51% citizens cast their ballots in the EP elections, 46% think EU membership is good for their country (one of the lowest in CEE). On the opposite end of the spectrum is Slovakia, which has the lowest turnout in EP elections (23%) and lowest support for the EU (44%).

Second, CEE citizens tend to be uninvolved in EU affairs and they prefer national rather than EU elections. In general, only 46% (as opposed to 54% on EU average) from CEE are interested in the EU elections in 2024. Only less than four in ten respondents in Czechia, Slovakia (both 27%), Estonia (37%) say they are in interested in the next European elections. Those are the lowest numbers in the whole of the EU. The most excited are Hungarian (59%), Poles and Austrians (both 58%). When it comes to preferences of national rather than EU elections, the lowest difference (which means people are more likely to go to vote in EU elections) are in Romania (national 50%, EU 41%) and Hungary (national 65%, EU 52%). The largest gaps are again registered in Czechia (national 64%, EU 28%), Slovakia (national 58%, EU 26%), and Latvia (national 70%, EU 39%).

Third, most CEE citizens have a neutral view on the European Parliament (43%). Views are most positive in Romania (46%), Bulgaria and Croatia (40% each) and Poland (39%). The most negative are again in Czechia and Slovakia (26% each), but also in Austria (21%), Romania and Hungary (19% each).

Fourth, there are still plenty of myths about the European institutions. For example, that the European Parliament: “has no real power”, „is just a talking shop”, „is a place to make money by national politicians”, that “Member States are under a Brussels diktat’” or that the EU is a ‘bureaucratic monster’ are commonly spread among CEE citizens. The “Qatargate” scandal does not help in building trust and confidence in the European Parliament, or the EU as such. As a result, there is no room for genuine discussions on EU treaty reform, electoral reform (transnational lists), the lead candidate, or ”Spitzenkandidaten”.

Fifth, some CEE governments thrive on conflicts with the EU. The EU bashing makes rational discussion about the EU impossible. Anti-European ruling parties such as Hungarian Fidesz or Polish Law and Justice (Prawo i Sprawiedliwość) send to Brussels and Strasbourg their representatives, who embrace the art of the electoral obstruction, refuse to admit the legitimacy of the European institutions while they happily accept generous remuneration from the EU institutions for their work. If Poland and Hungary do not change their collision course with the EU, the upcoming European elections might be the last before the Euroscepticism blossoms for good in those countries.

Sixth, CEE is far from homogeneous, especially when we add Austria to the mix. This is true for topics such as Russia’s aggression against Ukraine (for example Hungary’s Russia-friendly stance as opposed to hawkishly anti-Russian Polish policy), democracy and the adherence to rule of law (issues in Poland and Hungary in comparison to the Czech Hevellian policy), action against climate change (important for Austria (76%) but only 44% for Estonia), migration policy (extremely important for domestic politics in Austria (74%) and Hungary (75%)) or EU enlargement (supported by 73% in Poland and Lithuania, but only by 37% in Austria).

When it comes to the most pressing concerns in CEE that could potentially become the themes of the next European political campaign, they include the rising cost of living, Ukraine and the potential spread of the war to other countries, migration and Schengen zone enlargement, future EU enlargement and the risks to common European values such as freedom and democracy.

Other more specific issues could include:

  • Support for the economy and the creation of new jobs is the priority topic for 42% in Croatia, 39% in Estonia, 37% in Latvia and Romania.
  • The fight against poverty and social exclusion are the most mentioned topics in Lithuania (50%), Bulgaria (44%) and Slovakia (39%).
  • The EU’s autonomy in the field of industry and energy is considered the top priority in Czechia (49%) and is also chosen by 30% in Estonia.
  • Public health ranks first in Slovenia (42%) and Hungary (40%).
  • The EU’s defence and security, which was chosen as priority topic for 35% in Poland.
  • Interestingly, Austria is again an outlier here, as action against climate change was highest mentioned in Austria (38%). Other CEE countries do not rank this topic high among their concerns.

In short, one year is a long time and creating a list of themes of electoral campaign would be only a guessing game. There is no doubt that the electoral discourse and priorities will be shaped by public sentiment, domestic policies, and regional dynamics leading up to the European parliamentary elections in 2024.

But if the politicians want to engage with the citizens and motivate them to vote, they should start work now. If not, citizens in CEE will remain uninterested and uninvolved, and keep seeing the EU mostly as economic union that provides material benefits. As a result, even if the race for prestigious and lucrative European posts will be competitive, the discussions with the general public will not be heated at all, and the region will be the laggard in the EU elections turnout. They will be lucky if citizens even show up at the events during the EU political campaign.

 

Author: Kinga Brudzińska

Global Fragility: An uncertain future

 

Continuing support for Ukraine, resilience of Europe in the face of war and mitigating the global consequences of the conflict in a global dialogue were three overarching themes of GLOBSEC Bratislava Forum that took place on 29-31 May 2023 in Bratislava, Slovakia.

In light of the ongoing war in Ukraine and its consequences felt across, rebuilding stability, keeping unity and re-establishing links in Europe is more important than ever before. GLOBSEC Forum was designed to provide platform and create synergies among different stakeholders to respond to the challenges of today and foremost tomorrow.

The IDM was a content partner of the Forum and contributed to a high level exclusive thematic dinner “Echoes of War: Unraveling Global Consequences of the War in Ukraine”. What is more, Sebastian Schäffer, the IDM’s Managing Director was a panellist at timely side event: “The

European Political Community as an Inclusive Forum for Dialogue: Is this Enough?” co-organized by GLOBSEC and the European Council on Foreign Relations (ECFR). Finally, Director Schäffer took part in the activities related to GLOBSEC Danube Tech Valley Initiative.

An Interview with Sebastian Schäffer for Asharq News

Sebastian Schäffer was interviewed by Asharq News regarding Yevgeny Prigozhin, the former chef of Putin and head of the Russian mercenary group Wagner, insinuating a possible civil war like in 1917 due to lack of commitment from the Kremlin. While the guest from Russia, Elena Suponina – Consultant at the Center for International Affairs, tried to frame it as a military tactical maneuver, the IDM Managing Director offered different perspectives. While it might very well be all a charade, there is also the possibility to publicly blackmail the Kremlin to provide what Prigozhin demands. His explicit accusations of unprofessionalism and corruption against Defense Minister Sergei Shoigu and Chief of the Russian Armed Forces General Staff Valery Gerasimov could also indicate political ambitions. In any case remarkable are his comments regarding Ukraine: Instead of denazification and demilitarization, everyone globally now knows the country, which is now highly equipped as well as able to “(…) easily and successfully work with all systems – Soviet, NATO systems, you name it”.

Politics of Memory and the identity of the nations in Central and Eastern Europe after 1989

History, apart from being a field of science, is also a useful tool for making politics and influencing communal consciousness. After the fall of communism and the Iron Curtain in 1989, it became an important instrument in shaping new, democratic societies, as well as a weapon in international disputes. In addition, it is the subject of heated political debates. Since the 19th century, History has played a special role in the instituting of Central and Southeastern Europe’s nations. The often-rivalling visions of the past, promoted by national activists, helped them build modern nations and legitimized their right to ethnically mixed territories. In the interwar period (1918 – 1939), history was an important element of the ideology of the states that emerged as a result of the collapse of multinational empires in this part of the world. The conference will offer a forum for a broader debate on this topic, taking into account the historical context and experiences of individual countries in the region. In particular, the focus of the conference will be set on finding an answer to the following questions (indicative list of topics):

• Does history serve politics? How different historic periods and events (for example the experience of WWII or Holocaust) are utilized in politics and why?
• What is the role of politics of memory?
• What is the impact of politics on history as a science but also societal experience?
• To what extent does the state and its organs exercise control over the creation of ideas about the past? Can we really talk about “memory governance” or “politics of memory”?
• To what extent do various social groups have their own stories about the past and reflect on instrumental use of history and memory?
• Is history really an effective tool in building a democratic community or can it become a weapon in the hands of the opponents of democracy?

An Empty Promise to the Western Balkans? 20 years into the Thessaloniki Summit

 

“70 Years IDM – Locating the Future” in Budapest:

An Empty Promise to the Western Balkans?  
20 years into the Thessaloniki Summit  

Keynote Speech:

by

Viktor ESZTERHAI,

Research Director of the HIIA

Followed by a discussion

with

Strahinja SUBOTIĆ 

Programme Manager and Senior Researcher of the European Policy Centre 

Sebastian SCHÄFFER 

Managing Director of the Institut für den Donauraum und Mitteleuropa  

Ferenc NÉMETH 

Program Manager and Research Fellow of the Hungarian Institute of International Affairs 

Moderator: 

Julianna ÁRMÁS 

Research Fellow of the Hungarian Institute of International Affairs 

The event was held on 

23 May 2023 (Tuesday) at 15:00 (CEST) 

The venue of the event: 1062 Budapest, Bajza str. 44. Baruch palace. 

For more information check out An Empty Promise to the Western Balkans? 20 years into the Thessaloniki Summit

Ein Interview mit Daniela Apaydin über Herbert Kickls Träume einer Orbanisierung Österreichs, bei PULS 24

FPÖ-Chef Kickl bezeichnete Viktor Orbáns Ungarn kürzlich als „Vorbild“. Doch was würde das bedeuten? Wie hat der „Orbánismus“ Ungarn verändert? Drei Expertinnen warnen.

„Was die FPÖ mit ‚Vorbild Orbán meint, haben wir im Ibiza-Video gesehen. Es gehe um die politische Kultur, wie man mit der Opposition umgehe, wie der Parlamentarismus zum „Bühnenstück“ verkommt und darum, wie man mit Dauerwahlkampf Stimmung für sich macht. Ein Vorbild für Populisten also.

Die FPÖ habe mit Orbán zudem ideologische Überschneidungen: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Familienpolitik. Es gehe den Blauen bei Auftritten mit Orbán aber auch darum, jede Bühne zu nutzen, sich bei Terminen mit Staatsoberhäuptern zu profilieren und sich als Regierungspartner ins Spiel zu bringen“

sagt Daniela Apaydin.

Das vollständige Interview können Sie hier lesen.

Michelkirche, Ukraine, Kyjiw, Krieg, Reisebericht

Vor 100 Jahren in der Zukunft

Anlässlich unserer regionalen Initiativen im Rahmen des 70-jährigen Jubiläums des IDM reiste unser Geschäftsführer Sebastian Schäffer Ende April nach Kyjiw. Dort wurde er unter anderem Zeuge von Luftangriffen. Seine Erlebnisse während der Reise hat er in einer interaktiven Story Map zusammengefasst

Vollbild

 

Volltext:

Ich scanne mit meinem Mobiltelefon den QR-Code auf dem Tisch in einer Mikrobrauerei am Andreassteig in Kyjiw, um einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Plötzlich schrillt eine Sirene und ein Banner erscheint auf meinem Display : „Air alert! There is air alert in Kyiv. Proceed to shelter!”

„War das echt?“, fragt mich die Person, die mir gegenüber sitzt. Es ist nicht der erste Alarm an diesem Tag und ganz generell hat sich auch eine gewisse Indifferenz bei ihr eingestellt. „Ja“, antworte ich und spüre dabei, wie mein Herzschlag deutlich an Frequenz zunimmt. „Ah jetzt sehe ich es auch.“ Sie hat die App seit ein paar Wochen stummgeschaltet. Das ständige Suchen nach jeder noch so kleinen Information nach den unzähligen Luftalarmen im Herbst und Winter haben einen hohen Zoll für die mentale Gesundheit gefordert. „Was machen wir?“, schaut sie mich erst fragend an und lässt dann den Blick durch den Raum schwenken. Meiner folgt ihrem. Keine Aufregung, eher genervte Augen die auf Telefone blicken. Auch hinter der Fensterscheibe auf dem Kopfsteinpflaster ist keine gesteigerte Hektik zu erkennen. „Bier bestellen?“ – „Ok.“

Kraków Główny 

Drei Tage früher fast genau zur gleichen Zeit steige ich in Krakau in einen Zug Richtung Przemyśl. Von der polnischen Grenzstadt, die inzwischen wahrscheinlich bekannter ist als es ihr lieb ist, geht es dann weiter nach Kyjiw. Insgesamt 14,5 Stunden für knapp 860 km, das ging auch schon vor 100 Jahren schneller. Dabei spare ich mir eh einen Teil der Gesamtdistanz von Wien, weil ich bereits zwei Tage an einer Konferenz in Krakau teilgenommen habe. Der Reisetag ist dadurch aber auch extrem lang. Mein 70-Liter Rucksack wird mir in kürzester Zeit schwer auf den Schultern. Ich habe ein Versprechen gegeben, die abgelaufenen Mitbringsel aus dem letzten Jahr zu ersetzen und endlich zu meinem Freund in die ukrainische Hauptstadt zu bringen. Ursprünglich wäre ich am 21. Februar 2022 zu ihm geflogen, habe mich dann aber nicht getraut. Natürlich muss ich das jetzt überkompensieren und habe damit fast Übergepäck. Es würde aber auch niemanden stören, ein Vorteil im Vergleich zum Flug.

Przemyśl

Es nieselt, als ich aus dem leicht verspäteten Intercity der polnischen Eisenbahnlinien PKP steige. Es ist dunkel und auf den ersten Blick nicht zu erkennen, in welcher Richtung sich der Ausgang befindet. Ich folge einfach den vielen scheinbar routinierten Leuten, die sich zielstrebig nach links bewegen. In der Bahnhofshalle dann Helfer*innen mit gelben Westen und Personen in Tarnfarben mit polnischer Fahne am Ärmel. Ich bin unsicher, was ich tun muss, komme aber mit meiner Frage auf Englisch nicht sehr weit. Die von mir angesprochene Gelbwestenträgerin fragt daher auf Polnisch in die Runde, ob hier nicht jemand Englisch spricht. Eine ukrainische Teenagerin, die mit ihrer Mutter reist, bietet sich sofort an. Dank ihrer Hilfsbereitschaft sowie meines bruchstückhaften Ukrainisch weiß ich nun, dass ich nur mit Fahrkarte in die Ukraine den Warteraum links betreten darf und ich mich 40 Minuten vor Abfahrt hinten bei einem abgetrennten Bahnsteig einfinden soll. Bevor ich mir einen Stempel hole, der ermöglicht, nicht jedes Mal die Fahrkarte vorweisen zu müssen, wenn man sich zu den anderen wartenden Personen setzen möchte, will ich sehen, ob ich noch etwas zu essen finde.

In dem direkt am Bahnhofsvorplatz gelegenen Imbiss mit einheimischen Spezialitäten lässt sich trotz Türklingel, die automatisch bei meinem Betreten ausgelöst wird, niemand blicken. Ich verstehe den Hinweis und suche nach Alternativen. Inzwischen regnet es richtig und ich trage meine Überkompensation auf den Schultern.  Zumindest Wasser sollte ich mir organisieren. Zum Glück trage ich Funktionskleidung und ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Vorbei an dem Hotel, in dem ich bei der Rückfahrt übernachten werde, ein wenig bergauf zu einer Kreuzung, wo der Deutsche in mir trotz des kaum vorhandenen Verkehrs an der roten Ampel Halt macht. Ein polnischer Kiosk namens Żabka, an dem man auch noch spätabends Grundnahrungsmittel bekommt, befindet sich auf der anderen Straßenseite. Ich erkenne, dass meine Sitznachbarin aus dem Intercity an der Apotheke um die Ecke abbiegt. Sie hatte abgepackte Nüsse dabei und wirkte allgemein wesentlich besser vorbereitet als ich, weshalb ich davon ausgehe, dass sie nicht so ziellos umherläuft wie ich. Tatsächlich sind in der Straße ein paar Restaurants. Ich entscheide mich für die Pizzeria. Keine gute Wahl. Es ist schließlich schon fast halb zehn, die Küche ist schon kalt, schließlich schließt man um 22:00 Uhr. Auf die Frage, ob ich noch etwas zu trinken bekommen kann, dreht sich die Kellnerin kurz zur Bar und verneint anschließend. Geschickt weicht sie auch aus als ich frage, ob ich zumindest die Toilette benutzen dürfte. Sie deutet nach draußen und sagt mir dann nach links. Ihr Daumen zeigt dabei auf das WC-Schild hinter ihr. Mamma Mia. Die Ironie lässt mich schmunzeln und ich schultere wieder meinen Rucksack. Wie schon an so vielen Abenden zuvor rettet schließlich der Dönerladen meine Gesamtsituation.

Zurück in der Bahnhofshalle sitze ich auf einem der zusätzlich aufgestellten Sessel und versuche die Geschichten hinter den müden Gesichtern zu erraten. Viele Mütter mit Kleinkindern bis Teenager, einige ältere Menschen, kein einziger erwachsener Mann im wehrpflichtigen Alter. Außer mir. Gegen 22:50 Uhr gehen Mutter und Tochter, die mir bei der Ankunft Auskunft gegeben haben, an mir vorbei und lächeln mich an. Ich lächle zurück und mache mich ebenfalls auf den Weg. Wir stehen gemeinsam in der Schlage, die sich von einem Gebäude ins nächste schlängelt. Daneben ein Zelt der Caritas. Der Regen ist wieder zu einem Nieseln geworden. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es hier im Winter gewesen sein muss. Wir wechseln kein Wort, was insbesondere meinen Kopfhörern geschuldet ist, tauschen aber hin und wieder Blicke und Gesten aus. Ich passe auf den Rollkoffer auf, als beide kurz verschwinden. Die Größe ist im Vergleich zu meinem Rucksack geradezu lächerlich klein, was entweder eine gewisse Regelmäßigkeit der Reise vermuten lässt, oder einen Kurztrip. Die Routine im Ablauf sowie die vergleichsweise gute Laune lässt mich zu Ersterem tendieren.

Um 23:40 Uhr bin ich endlich im Zug. Zehn Minuten vorher war die geplante Abfahrt und ich stand noch in der Halle mit den Grenzkontrollhäuschen. Draußen fuhr ein Zug der ukrainischen Bahn vorbei und mein Herzschlag setzte kurz aus. Dann erinnerte ich mich an einen anderen Reisebericht, in dem stand, dass der Zug erst losfährt, wenn alle durch die Kontrolle gegangen sind. Im Vergleich zu meinen sonstigen Reisevorbereitungen habe ich mich durchaus ausführlicher mit dem Ablauf beschäftigt. Trotzdem wollte ich auch irgendwie nicht zu viel darüber nachdenken. Möglicherweise aus Angst vor der eigenen Courage. Je näher die Reise kam und ich mit Personen über meinen Plan nach Kyjiw zu fahren sprach – unabhängig davon, ob sie das schon selbst gemacht hatten oder nicht – desto nervöser wurde ich. Meine Frau findet ganz grundsätzlich, dass es eine dumme Idee war, kennt mich aber lange genug, um zu wissen, dass mich fast nichts abhalten kann, wenn ich mir etwas richtig in den Kopf gesetzt habe. Und erst recht nicht, wenn ich das in einem publizierten Buch aufgeschrieben habe.

Als ich in meinem Wagon ankomme, ist mein Platz besetzt. Drei Generationen einer Familie. Statt am Fenster sitze ich jetzt eben am Gang, und statt neben der Mutter nun neben der Tochter, damit die Großmutter sitzen bleiben kann. Wir tauschen uns kurz aus und ich biete ihr die Nüsse an, die ich inzwischen besorgt hatte. Sie lehnt ab und holt ihr Handy hervor. Genervt blickt sie auf die Uhrzeit und mir ist das natürlich sofort sympathisch. Zwei Minuten vor Mitternacht setzen wir uns in Bewegung, 28 Minuten Verspätung schon zu Beginn. Als ehemaliger Bahn.Bonus-Status-Besitzer weiß ich, was das in Deutschland bedeuten würde. Bei der Abfahrt macht meine Sitznachbarin tatsächlich die Becker-Faust und ich muss mich sehr zusammenreißen nicht laut loszulachen.

Lwiw

Um genau 0:25 Uhr überqueren wir die Grenze und ich bin zum ersten Mal seit Oktober 2019 wieder in der Ukraine. Knapp eine Stunde später erreichen wir Lwiw. Es ist 02:30. So viele schöne Erinnerungen an diese Stadt kommen zurück. Wie es jetzt wohl sein mag? Ob es all die unterschiedlichen Themenrestaurants noch gibt? Die Kaffeemine. Die Brauerei, die das Bier „Frau Ribbentrop“ herausgebracht hat. Die betrunkene Kirsche. Ich hatte überlegt, einen Stopp auf der Reise einzulegen. Aber das Programm war eh schon voll, ich muss das einfach zu einer anderen Gelegenheit herausfinden. Eine andere Geschichte zur Stadt erzählte mir der Vater meines Freundes, für dessen Geburtstag ich auch nach Kyjiw reise. Im Zuge der vollständigen Invasion durch die Russische Föderation fuhren sie im März 2022 nach Westen, um sich in Sicherheit zu bringen. Nachbar*innen aus Kyjiw informierten ihn, dass die Druckwelle einer Raketenexplosion die Fenster in seiner Wohnung zwar nicht bersten hat lassen, diese aber aufgedrückt hätte. Leider waren seine direkten Nachbar*innen, die seinen Schlüssel hatten, ebenfalls geflohen. Also ließ er ihn in Lwiw nachmachen und schickte ihn mit der Nova Pošta in die Hauptstadt. Einen Tag später konnten die Fenster geschlossen werden. Insgesamt schauen die Leute nun viel mehr aufeinander, auch wenn man vorher kaum etwas miteinander zu tun hatte, schließt er seine Geschichte.

Wesentlich weniger interessant ist dann meine Weiterfahrt. Einfach weil es dunkel ist. Normalerweise schlafe ich sehr schlecht in sich bewegenden Objekten. Meistens nur dieser Sekundenschlaf, nach dem man noch geräderter aufwacht. Dieses Mal geht es aber erstaunlich gut. Zumindest immer wieder am Stück. Zugegeben: Ich habe ein Erste-Klasse-Ticket gebucht, man hat großen Abstand zwischen den Sitzen und nicht jede Bewegung der Mitreisenden weckt einen auf. Es geht auch ohne Reservierung des Nebenplatzes, zu der man mir geraten hatte, um sich ein wenig ausstrecken zu können. Es gibt genug Platz für die Füße im IC+ und sich quer über die Sitze legen würde aufgrund der Abstände auch nicht wirklich gut funktionieren. Wer wirklich liegen möchte, sollte lieber gleich die Verbindung mit Schlafwagen nutzen. Wer oft aufstehen muss, sollte lieber den Gangplatz wählen, die linken Sitze in der Buchungsmaske stehen (meist) in Fahrtrichtung nach Kyjiw, rechts dann bei der Rückfahrt. Die Buchung fand ich sehr einfach, gerade im Vergleich zur polnischen PKP. Leider kann ich die App der Bahngesellschaft Ukrzaliznycja nicht nutzen, weil dafür eine ukrainische Mobilnummer notwendig ist. 20 Tage vor Abfahrt kann man die Tickets buchen. Inzwischen sogar eine Direktverbindung von Wien, die nach knapp 24 Stunden über Budapest und Lwiw nach Kyjiw fährt.

Kyjiw

Zwei Minuten vor der geplanten Ankunft um 10:06 Uhr halten wir in Kyjiw-Pasažyrskyj. Ich bin zwar müde, aber sehr glücklich meinen Freund am Ende der Treppe zu sehen. Weder auf der Fahrt noch jetzt, da ich angekommen bin, stellt sich ein Gefühl der Angst ein. Ich war unsicher geworden. Insbesondere nach einem Gespräch, in dem mir illustriert wurde, dass zwar bisher noch keine Züge getroffen wurden, aber es ja durchaus passieren kann, gerade wenn man über eine Brücke fährt, zum Beispiel. Außerdem wären ja Waffentransporte ein militärisches Ziel und die erfolgen auch mit Zügen. Aha. Na Danke für diesen Gedanken. Als ob Putin zwischen zivil und militärisch unterscheiden würde. Auf jeden Fall ist es, wie eine ukrainische Kollegin mir in einem Gespräch mitgeteilt hatte. Manchmal sieht es von der Ferne gefährlicher aus, als wenn man nahe dran ist.

Irpin

Das gilt allerdings nicht für tatsächliche geschehene Grausamkeiten. Nach einer Dusche und nachdem mein Freund und ich versuchen, uns die vergangenen dreieinhalb Jahre, in denen wir uns nicht persönlich gesehen haben, zusammenzufassen, fahren wir auf seinen Vorschlag nach Irpin. Er erzählt mir, dass es schon wesentlich mehr wiederaufgebaut ist als seit seinem letzten Besuch. Dennoch ist es bedrückend und mit Worten nur schwer zu beschreiben.

Kyjiw

Reinfeiern in den Geburtstag meines Freundes in einer Bar geht aufgrund der Sperrstunde um 24:00 Uhr nicht. Neben den Bildern aus Irpin auch immer eine Erinnerung an die Tatsache, dass man sich in einem Land im Kriegszustand befindet. Sonst könnte man es auch leicht vergessen. Das Restaurant, in dem wir Abendessen, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Karte wird auch hier über den QR-Code abgerufen. Und darüber kann man auch bezahlen. Dabei hatte ich mich so gut vorbereitet auf Ukrainisch um die Rechnung zu bitten. Am nächsten Tag gehen wir dann für das geplante Geburtstagsbarbecue einkaufen. Im Baumarkt besorgen wir Kohle, gleich am Eingang sind unterschiedliche Modelle von Generatoren erhältlich. Alle reduziert. Ich werte das als gutes Zeichen. Tatsächlich gab es seit Anfang März keine Raketenangriffe mehr, Stromausfälle selten und die Unterteilung des Tages in Einheiten mit Elektrizität und ohne ist nur noch eine Geschichte, die mir ein Kollege am nächsten Tag nach unserer gemeinsamen Veranstaltung erzählt.

Der Abend wird ganz wunderbar. Es gibt viel zu Essen, das wir auf dem Markt besorgt haben. Bier, Wein, Whiskey. Musik, Gesang und lustige wie traurige Geschichten. Rechtzeitig vor der Sperrstunde wird das neue Album von The National veröffentlicht, sodass wir es noch in der Runde hören können. Leider müssen die letzten Gäste aber dann gegen 23:30 Uhr gehen. Und da ist sie wieder die Erinnerung. Kriegszustand. Und nur, damit wir es nicht vergessen, gibt es um 04:01 Uhr Luftalarm.

Letztendlich ist es genauso unspektakulär wie dieser Satz. Meine App löst nicht aus, weil mein Telefon im Schlafmodus ist. Ich bin offensichtlich wirklich nicht gut vorbereitet. Mein Freund weckt mich leise und flüstert fast: „Du könntest ein paar Explosionen hören.“ Er hat es kaum ausgesprochen, schon gibt es unnatürliche Geräusche und einen Knall. „Müssen wir etwas tun?“, frage ich nicht nur schlaftrunken. „Ich denke nicht.“ IRIS-T SLM, oder ein anderes Luftverteidigungssystem, regelt das tatsächlich. Gegen 6:25 Uhr gibt es Entwarnung. Leider ist es nicht für alle so glimpflich ausgegangen. In Uman trifft eine Rakete ein Wohnhaus. Tote und Verletzte. Freund*innen, Kolleg*innen und meine Familie schreiben mir. Es schafft es also auch in internationale Medien. Im Nachhinein Berichte darüber zu lesen trifft mich nochmal anders. Die Direktorin des Instituts, mit der ich das Event später um 11:00 Uhr organisiere, entschuldigt sich, dass ich das erleben musste. Ich antworte, dass es für mich einmal so war, für sie aber seit 14 Monaten so ist. Dennoch muss ich in meinen Eröffnungsworten natürlich darauf Bezug nehmen. Unser Thema dreht sich letztendlich auch um Sicherheit.

Während der Fahrt von Teremky, der Endstation der blauen Metrolinie, in deren Nähe ich übernachte, nach Majdan Nezaležnosti Matt Berningers Stimme auf den Ohren zu haben verursacht Gänsehaut. Ganz echte, sichtbare und nicht nur eine Phrase, die ich sonst über ein für mich besonderes Lied oder Album auf Sozialen Medien posten würde. Ich werde abgeholt. Also von einem Kollegen, nicht nur von den Liedern. Es ist nicht so einfach sich im Labyrinth der Station zu finden. Außerdem hat sie erst kürzlich wieder geöffnet. Die verzweigten Tunnel ermöglichen einen direkten Zugang zum Präsidentenpalast. Wir gehen nicht wie bei meinem letzten Besuch am Michaelsplatz die ebenfalls nach Michael benannte Straße hinauf, sondern parallel dazu zum Institut für Philosophie der ukrainischen Akademie der Wissenschaften, in dessen Gebäude sich die Büros unserer Kooperationspartner*innen befinden.

Im Gebäude grüßt der Portier jovial. Im vierten Stock ist es dann ernster, dort befinden sich Polizei und Militär auf einem Kontrollgang. Aus dem Fenster hat man eine ideale Schusslinie auf das St. Michaelskloster. Die slowakische Präsidentin und der tschechische Präsident sind in der Stadt. Unser Event ist natürlich von den aktuellen Ereignissen geprägt, es ergibt sich aber eine, wie ich finde, sehr spannende Diskussion, die sehr offen und ehrlich geführt wird. Zudem beteiligen sich auch die Teilnehmer*innen im Webinar mit interessanten Fragen. Es gerät fast in den Hintergrund, dass es sich auch um eine Veranstaltung im Rahmen unserer 70-Jahre-IDM Aktivitäten handelt, was ja einer der Hauptgründe für meine Reise ist.

Anschließend gehe ich mit den beiden Mitarbeiter*innen des Ukrainian Institute for International Politics (UIIP) auf einen Spaziergang durch das Viertel. Entlang an der „Memory Wall“, an der die gefallenen Soldat*innen seit 2014 mit Bildern verewigt werden. Die Wand musste bereits zweimal erweitert werden. Es hört und hört nicht auf. Ich merke wie sich ein Klos in meinem Hals bildet. Als ich auf das Geburtsdatum eines Soldaten schaue und 2001 lese muss ich hörbar einatmen. So jung, so tapfer, aber auch so unnötig. Wofür? Vor der Diplomatischen Akademie der Ukraine dann eine Ausstellung einiger russischer Panzer sowie beschossene Autos, ein Anblick, den ich schon aus Irpin kenne. Dahinter drei Sandsacktürme. Sie schützen das Denkmal der Fürstin Olga, an das ich keine Erinnerung von meinem letzten Besuch habe. Ich war mir sicher, die Demonstration, die ich im April 2019 dort aus dem Fenster beobachtet hatte, fand auf einem leeren Platz statt.

Wir machen einen Halbkreis zurück in Richtung St. Michaelskloster. An mehreren aufgestellten Wänden sind Bilder aus Warschau 1944 und daneben aus Mariupol 2022 aufgereiht, die ähnliche Motive zeigen. Zerbombte Häuser, brennende Gebäude, Leichensäcke, erschossene Personen. Die Konstruktion schwankt gefährlich im Wind, vielleicht sind es aber auch meine Knie, die nach diesem visuellen Schlag in die Magengrube drohen nachzugeben. Wir setzen unseren Spaziergang fort, auch wenn mir das Wort unpassend erscheint.

Ich versuche von meinen beiden Begleiter*innen herauszufinden, wie sie die letzten Monate erlebt haben und wie sie mit der Situation umgehen. Wir erreichen die Brücke, die den Wolodymyr-Hügel und Chreschtschatyi Park verbindet. Diese wird im Volksmund auch Klitschko-Glas-Brücke genannt, weil die beiden ehemaligen Boxer-Brüder zur Eröffnung auf dem Plexiglas herumgesprungen sind, um die Stabilität der Struktur zu bestätigen. Mein Begleiter wartet nur darauf, dass ich auch darauf trete, um mir dann zu erzählen, dass die Brücke von einer Rakete beschädigt wurde. Während aus meinem Gesicht die Farbe weicht, muss er herzlich lachen. Natürlich hat man die Schäden umgehend beseitigt, was er mir allerdings erst nach einer kurzen dramaturgischen Pause sagt. Resilienz und Innovation. Ersteres bewiesen durch den Umgang mit den Grausamkeiten des Krieges, von Letzterem werde ich unmittelbar danach ebenfalls Zeuge. Eine Frau macht ein Foto von uns, geht zu ihrem Laptop, druckt eine Zeitungstitelseite aus und gibt sie uns. Die Bezahlung erfolgt mit einer App, in der man den Code der Dame eingibt. Das Ganze dauert keine fünf Minuten und wir haben nicht nur für einen guten Zweck gespendet, sondern auch eine Erinnerung an unseren Ausflug.

Durch den Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes gehen wir zurück zum Majdan, auf dem die Tulpen blühen. Dieses Mal geht es die Michaelstraße hinauf, vorbei am Außenministerium zu dem Restaurant, in dem der Gewinner von Master Chef Ukraine kocht. Ich esse den wahrscheinlich besten Borschtsch meines Lebens, kann ihn nur nicht bezahlen, weil meine Bank mir wahrscheinlich nicht glaubt, dass ich mit meiner Karte in der Ukraine bin. Dankenswerterweise springt eine Kollegin ein und wir machen uns den Andreassteig entlang auf die Suche nach einer Möglichkeit Geld zu wechseln, damit ich meine Schulden begleichen kann. Wir kommen am Mykola-Hohol-Denkmal vorbei, das ebenfalls mit Sandsäcken umgeben ist, nur sein Kopf schaut heraus. Warum dieser nicht geschützt wird, erschließt sich mir nicht. Wir werden schließlich an dem Platz fündig, auf dem ich vor ein paar Jahren das zweifelhafte Vergnügen hatte in das Zibertfest zu platzen. Ein Bierfest, das so tut als würde es im September in München stattfinden, dann aber die Maßkrüge aus Zwei-Liter-Plastikflaschen füllt. Jetzt steht dort ein Riesenrad. Vielleicht war es auch damals schon da. Ein fotografisches Gedächtnis habe ich schon mal nicht.

Ich bin im Anschluss mit zwei Ukrainerinnen verabredet, die im April 2022 kurzzeitig bei mir wohnten, während sie auf ihr Visum für das Vereinigte Königreich warteten. Sie sind schon länger wieder zurück in Kyjiw. Wir wollen uns in einem Café treffen. Als ich durch die Eingangstüre gehe, habe ich kurz das Gefühl durch ein Portal direkt in ein hippe Kaffeemanufaktur im Berliner Prenzlauer Berg zu treten. Es ist kein Platz frei, wir haben nicht reserviert. Ich schaue mich um, vielleicht sind sie ja schon da. Ich erblicke ein bekanntes Gesicht, mein Gehirn braucht etwas länger, um den Netzhautreiz zu verarbeiten. Ich winke schon fast, als ich realisiere, dass es sich nicht um eine meiner Bekannten handelt. Es ist meine Sitznachbarin aus dem Zug von Krakau. Bevor sie noch den Eindruck bekommt, dass ich sie stalke, mache ich auf dem Absatz kehrt und koordiniere einen neuen Treffpunkt. Es ist nicht einfach in der Umgebung etwas mit freien Plätzen zu finden, was ich generell wieder als gutes Zeichen werte. Wir sitzen aufgereiht an einer Bar, die viel zu viel Auswahl an Bier in viel zu kleinen Gläsern ausschenkt, und unterhalten uns. Eigentlich spricht hauptsächlich eine von uns. Vielleicht als Berufskrankheit, sie ist Lehrerin. Aber ich habe sie auch seit einem Jahr nicht mehr gesehen, während ihre Cousine dazwischen öfter in Wien war und dabei auch mich besucht hatte. Die Pädagogin muss noch ihren Unterricht vorbereiten, und verabschiedet sich. Ihre Cousine und ich beschließen weiterzuziehen. Sie kennt da eine Mikrobrauerei.

Und damit sind wir wieder am Anfang dieses Reiseberichts angekommen. Nach knapp einer Stunde gibt es Entwarnung. Ich bestelle noch ein Bier und Snacks dazu. Unsere Gespräche drehen sich um durchaus schwere Themen, doch der Krieg ist keines davon. Geht das überhaupt? Wahrscheinlich muss es sogar. Es ist wie bei so vielen Dingen, niemand will auf nur eine Sache reduziert werden. Und das Leben geht weiter. Auch wenn über dir die Luftverteidigung arbeitet. Wir fahren noch zwei Metro-Stationen gemeinsam, am Ploschtscha Lva Tolstoho verabschieden wir uns mit einer Umarmung und dem Versprechen, uns bald wieder zu sehen.

Gleiches Prozedere, nur mit anderen Personen am nächsten Tag am Bahnhof. Ein letzter Blick zum Abschied und Hände, die winken. Unvermeidlich der Gedanke, den man sonst nicht unbedingt bekommt. Es gibt dieses Video, in dem die einfache, aber eindrucksvolle Rechnung aufgemacht wird, wie oft man seine Eltern im Leben noch sehen wird. Gerade, wenn man weiter voneinander entfernt lebt, reduziert sich diese Zahl dramatisch. Meine Sicht verschwimmt. Regen prasselt an die Scheiben des anfahrenden Zugs. Wasserballonaugen.

Ich benötige mehr als die Hälfte der Fahrt nach Przemyśl bis ich auch nur ein Wort aufgeschrieben habe. Mir fällt kein Einstieg ein, ganz zu schweigen von einem Titel. Während an mir die Landschaft vorbeizieht, haben meine Gedanken wahrscheinlich zum ersten Mal seit Tagen die Möglichkeit einfach nur zu wandern. Und dann kommt es ganz plötzlich. Den Rest der Fahrt verbringe ich fast manisch damit das Erlebte niederzuschreiben. Ein Wettlauf. Kommt meine Geschichte oder der Zug zuerst über die Grenze? Wir erreichen erneut pünktlich unser Ziel. Auch mein Ringen mit den Worten ist in Przemyśl angekommen. Allerdings erst bei der Hinfahrt. Ich werde aber noch ausreichend Zeit bekommen, sie zu Ende zu schreiben, bevor ich zurück in Wien sein werde.

Welcome to Europejski / Dobry wieczór, my z Europy

Wir dürfen eine halbe Stunde lang nicht aussteigen. Das ist aber weniger schlimm als der 15-minütige Halt kurz nach der Grenze, weil ich mich da nicht mit dem polnischen Mobilfunknetz verbinden konnte und so komplett abgeschnitten von der Welt war, da meine mobilen Daten für das ukrainische Netz schon in Lwiw aufgebraucht waren. (Oder wie die zu diesem Zeitpunkt noch vor mir liegende Rückreise von Krakau nach Wien, die dank Flugausfall und fehlender Kooperation von Austrian Airlines, genauso lange gedauert hat wie die beiden Zugfahrten Przemyśl-Kyjiw und Kyjiw-Przemyśl, aber dieser Treppenwitz ist eine andere Geschichte…). Dann wieder anstehen in der Kontrollhäuschenhalle, nur jetzt von der anderen Seite. Da ich einer der wenigen mit EU-Pass in der Schlange bin, wird die mit dem EU-EWR-CH-Schild gekennzeichnete Kabine für alle geöffnet. Soll mir recht sein, ich habe es nicht eilig, weil ich die Nacht im Przemyśl verbringen werde und bereits einen ungefähren Eindruck habe, welche Art von Zimmern mich erwartet. Meinen Rucksack muss ich danach noch in einen Scanner schieben, nur sitzt am anderen Ende niemand, um das Röntgenbild anzusehen. Dann hätte ich das ganze Essen gar nicht aufessen müssen. Ein wenig wiederholen sich ja ständig Dinge auf dieser Reise.

Auf jeden Fall komme ich wieder durch die Bahnhofshalle und wer steht hinter dem Welcome-Desk? Die Gelbwestenträgerin von der Hinfahrt. Ich freue mich sehr, dass ich ausgerechnet ihr meine übrigen Hrywnja in die Hand drücken kann, aber sie deutet nur auf die andere Seite, wo sich die Ticketschalter befinden. Ich sage ihr lachend, dass ich das Geld gerne spenden würde und bevor sie wieder jemanden sucht, der mein Englisch versteht, drehe ich mich um und gehe in das Hotel Europejski.

Es bleiben zahlreiche Eindrücke und auch ein paar neue Erfahrungen. Nicht alle davon muss man machen. Ich habe auch Neues gelernt. Zum Beispiel, dass mit Bajraktarschtschina ein eigenes Wort für die teilweise absurde Verwendung ukrainischer Kriegssymbole und patriotischer Memes existiert. Dieser Ausdruck ist angelehnt an die türkische Drohne Bayraktar, die insbesondere durch die ukrainische Armee zum Einsatz kommt. Es verfestigt sich aber auch eine Erkenntnis, die ich bereits zuvor hatte: In meinen Gesprächen mit Ukrainer*innen benutzen sie immer wieder das Wort Europa synonym mit der EU. „Wenn ich nach Europa fahre.“ Dass dieses Hotel genau diesen Namen trägt, mich aber eher an das Student*innenwohnheim im russischen Saratow erinnert, in dem ich für eine Konferenz mal übernachtete, ist schon sehr symbolisch. Weil das eben alles Europa ist. Ich habe auf jeden Fall nicht das Gefühl nach Europa gefahren zu sein. Ich war schon die ganze Zeit da.

Sebastian Schäffer – „It will be a day of celebration for Ukraine, Europe, and the whole world”

“Both the visit of Ursula von der Leyen as well as the declaration to celebrate Europe Day instead of Victory Day on 9 May in Ukraine are symbolic.”

Sebastian Schäffer told this to EDnews whilst commenting statement made by Ursula von der Leyen and a decree signed by President of Ukraine Volodymyr Zelensky, according to which May 9 is declared Europe Day in the country instead of Victory Day.

Read the whole interview here.