Das stille Opfer des Ukraine-Krieges

Bewaffnete Konflikte wirken sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf gesamte Ökosysteme aus. Am Beispiel ihrer ukrainischen Heimatstadt Mykolajiw erklärt die Süßwasserökologin OLEKSANDRA SHUMILOVA die weitreichenden Folgen des Ukraine-Krieges für Mensch, Tier und Umwelt.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Seit Februar 2022 richtet sich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Krieg in der Ukraine. Er beeinträchtigt das Leben von Millionen von Menschen und hat vielfältige Konsequenzen, die weit über die ukrainischen Grenzen hinausreichen. Die Natur ist das stille Opfer dieses verheerenden Krieges. Militäraktionen führen zu massiven Bränden, zur Verschmutzung von Böden und Luft und haben drastische Folgen für die Tierwelt. Die Auswirkungen des Krieges auf das Wasser – und des Wassers auf den Krieg – waren jedoch eine der ersten, die viele Ukrainer*innen zu spüren bekamen.

Verzweigte Schäden

Obwohl schon lange zu Folgen von Militäraktionen auf Wassersysteme geforscht wird, ist der Fall der Ukraine besonders. Im Gegensatz zu den Konflikten im hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Globalen Süden ist die Wasserinfrastruktur der Ukraine hoch industrialisiert. Sie umfasst große Stauseen, Wasserkraftwerke, Kühlbecken für Kernkraftwerke, Wasserreservoirs für Industrie und Bergbau sowie ein ausgedehntes Netz an Wasserverteilungskanälen für landwirtschaftliche und kommunale Zwecke. Wie verheerend die Schäden durch Kriegsinterventionen sind, zeigte der Bruch des Kachowkaer Staudamms. Anfang Juni 2023 wurde dieser gesprengt – erste Hinweise deuten auf russisches Kalkül (Stand: Juni 2023). Ganze Landstriche wurden geflutet, Äcker, Industrieanlagen und Siedlungen zerstört. Zudem herrscht Sorge um das größte europäische Kernkraftwerk Saporischschja, das mit Kühlungswasser aus dem Stausee versorgt wurde. Das ganze Ausmaß und die langfristigen Folgen der Schäden werden enorm sein und sind immer noch schwer absehbar.

Als Süßwasserökologin, die in der Ukraine aufwuchs, brachte mich die Bedrohung der Wasserinfrastruktur, der Wasserressourcen und der Ökosysteme durch den Krieg schon seit Beginn der russischen Invasion zum Nachdenken. Ich wollte meinem Land mit meiner Expertise helfen. Der Ausbruch des Krieges fiel mit einer Übergangsphase in meinem Leben zusammen und es kostete viel Mühe, meine eigene Forschungsgruppe aufzubauen. Dennoch schaffte es mein Team, die Auswirkungen auf die Wasserressourcen und -infrastruktur während der ersten drei Monate des Krieges zu analysieren. Die Ergebnisse zeigen, wie vielfältig die Folgen militärischer Aktionen waren. Der Betrieb von Wasseraufbereitungsanlagen wurde mehrfach unterbrochen, Wasserleitungen und Kanäle beschädigt, Dämme brachen schon damals und verursachten Überflutungen. Hinzu kam die Gefahr von nautischen Minen. Im Süden der Ukraine bedrohten Militäraktionen das Netz der Bewässerungskanäle, während Angriffe im Osten das Abpumpen von Wasser aus unterirdischen Minen verhinderten, was zu einem unkontrollierten Anstieg von verschmutztem Minenwasser führte. Das wirkte sich wiederum auf Grund- und Oberflächenwasser aus. Obwohl die Regionen, in denen intensive Bodenkämpfe stattfanden, am stärksten betroffen waren, wurden Auswirkungen auf das Wasser auch weit entfernt von den aktiven Kampfgebieten festgestellt. Besonders dramatisch ist der Anstieg der Zahl der Menschen in der Ukraine, die Wasser-, Sanitär- und Hygienehilfe benötigen: Zwischen April und November 2022 stieg sie von sechs auf 16 Millionen.

Das salzige Wasser von Mykolajiw

Vom Bruch des Kachowkaer Staudamms ist auch die Region rund um meine Heimatstadt Mykolajiw betroffen. Mit Wasserproblemen hat die Stadt aber schon seit Beginn der russischen Invasion zu kämpfen. Bereits im April 2022 wurde eine 90km lange Pipeline, die Wasser aus dem Fluss Dnipro lieferte, durch Kampfhandlungen zerstört. Eine halbe Million Einwohner*innen hatte plötzlich kein Leitungswasser mehr. Überall sah man Menschen mit Trinkwasserkanistern, die sie von Lieferfahrzeugen bekamen. Obwohl Mykolajiw von zwei Flüssen umgeben ist, eignet sich ihr Wasser aufgrund der hohen Salzkonzentration nicht zum Trinken. Nach einem Monat wurde beschlossen, das Flusswasser trotz geringer Qualität in die Wasserleitungen zu lenken, damit die Menschen es wenigstens für Haushaltszwecke wie Putzen oder Wäschewaschen nutzen können. Es war eine schwierige Entscheidung, da salziges Wasser Rohrleitungen korrodieren lässt. Nach über einem Jahr ist das Leitungswasser noch immer rostig und die Zahl der beschädigten Rohrleitungen in Mykolajiw steigt an. Die Frontlinie verschob sich mittlerweile in den Osten der Stadt und die Orte, an denen die Wasserversorgungsleitung zerstört wurde, sind dadurch zugänglicher. Aufgrund der Gefahr wiederholter Angriffe und der insgesamt vielen Schäden stehen die Reparaturen dennoch weiter aus.

Die unzureichende Wasserversorgung ist einer der Hauptgründe, warum sich viele Flüchtlinge aus Mykolajiw nach wie vor weigern zurückzukehren. Die in der Stadt verbliebenen, zumeist alten Menschen verbringen ihren Alltag mit der ständigen Suche nach Wasser. Regierungsangestellte und Freiwillige halfen bei der Errichtung mehrerer Brunnen, die ihnen Zugang zu Trinkwasser verschaffen. Bis Mitte Februar 2023 wurden 189 Brunnen errichtet und es ist geplant, diese Zahl auf bis zu 250 zu erhöhen – trotz der hohen Kosten von rund 25.000 Euro pro Brunnen. Auch wenn diese Maßnahmen der Bevölkerung helfen, stellen sie eine neue Umweltbedrohung dar, da der Grundwasserspiegel durch die umfangreiche Entwässerung des Bodens sinkt.

Im April 2023 genehmigte die Europäische Investitionsbank die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel in Höhe von 20 Millionen Euro für den Ausbau der Wasserversorgung und des Abwassersystems in Mykolajiw. Das örtliche Wasserversorgungsunternehmen erwägt den Bau einer neuen Pipeline, die Wasser aus dem Südlichen Bug flussaufwärts transportiert, oder die Einrichtung groß angelegter Umkehr-Osmosesysteme, die dazu beitragen, das aus der Dnipro-Bug-Mündung entnommene Salzwasser zu reinigen.

Wasser hat höchste Priorität

Der Zugang zu Wasser ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das durch zahlreiche internationale Übereinkommen geschützt ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete am 27. April 2021 eine Resolution, gemäß der alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien verpflichtet sind, die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur, einschließlich Wassereinrichtungen, zu schützen. Aber funktioniert das auch, wenn tatsächlich ein Krieg ausbricht? Viele Wassertechniker*innen wurden während Reparaturen beschädigter Infrastruktur getötet oder verletzt. Die oft schlechte Qualität des gelieferten Wassers hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit und erhöht die Gefahr von Epidemien. Das zwingt Menschen dazu an andere, bessere Orte zu ziehen.

Flüsse kennen keine Grenzen. Die meisten Flüsse auf dem Gebiet der Ukraine münden in das Schwarze und das Asowsche Meer, was zu einer potenziellen Verbreitung von Schadstoffen und negativen Folgen für lebende Organismen führt. Es wird Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß dieser Auswirkungen verstehen, aber einige von ihnen – wie die Gefahr für die globale Ernährungssicherheit – sind bereits jetzt spürbar. Daher sollten die Wiederherstellung der Wasserinfrastruktur und die Sanierung der Wasserressourcen ein integraler Bestandteil des friedensschaffenden Prozesses werden.

»Impact of the Russia–Ukraine armed conflict on water resources and water infrastructure«, Oleksandra Shumilova et al., in Nature Sustainability 6, 2023.

 

Oleksandra Shumilova arbeitet am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Sie forscht zu Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur sowie nachhaltiger Entwicklung. Ihre Forschung umfasst auch die Ökologie intermittierender Flüsse sowie die Hydro- und Morphodynamik von Flussauen.

Ein Wohnzimmer am Fluss

Mit »taktischem Urbanismus« wollen Aktivist*innen des Vereins Valyo das Budapester Donauufer inklusiver gestalten. ANITA GOCZA sprach mit CILI LOHÁSZ über Konzerte auf Brücken, Zusammenarbeit mit der Stadtpolitik und den ersten Sprung in die Donau seit 1973.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Ein Spaziergang entlang der Donau an der Pest-Seite gestaltet sich äußerst schwierig: Autos, Lärm, Asphalt und CO2 beherrschen die Orte mit der besten Aussicht auf Budapest. Der obere und untere Damm werden als Straßen genutzt. Diese sind nur schwer zu überqueren, auf einer kilometerlangen Strecke gibt es nur vier Zebrastreifen. Wer ans Ufer gelangen will, muss über Metallstangen klettern und selbst dann finden Fußgänger*innen keinen Gehweg, sondern nur einen schmalen Trampelpfad. Cili Lohász wollte das nicht mehr hinnehmen. Sie ist Mitgründerin der NGO Valyo – ein Akronym aus den ungarischen Wörtern város (Stadt) und folyó (Fluss) – und setzt sich für die Demokratisierung von öffentlichen Räumen entlang der städtischen Donau ein.

»Wir wollen den Fluss in das Wohnzimmer der Budapester Bevölkerung verwandeln«, sagt die Geografin. Die Idee zu städtischen Interventionen kam ihr nach einer Radtour entlang der Donau. »In Wien konnten sich die Teilnehmer*innen in der Donau abkühlen, in Budapest war das nicht möglich.« Sie merkte, dass sie zwar regelmäßig an der Donau Rad fährt, jedoch keine Verbindung zum Fluss selbst hatte: »Ich saß fast nie am Ufer.« Das wollte sie ändern.

Brücken besetzen, um Brücken zu bauen

Neben Lohász gründeten ein Urbanist, ein IT-Spezialist und ein Soziologe Valyo im Jahr 2010. Sie alle hatten genug vom Kampf für ferne, globale Klimaziele und wollten etwas tun, das das Stadtleben tatsächlich verändert. 2011 kauften sie deswegen ein Zugticket nach Belgrad. »Es ist viel effektiver ein Foto mit Stränden am Fluss in Belgrad zu zeigen als in Wien«, erklärt Lohász. »Dann kann niemand einfach sagen: Die haben mehr Geld für die Umsetzung.« Die Valyo-Gründer*innen merkten, dass die Menschen in Belgrad eine intensive Verbindung zu ihren Flüssen, der Sava und Donau, hatten. Sie fanden Hausboote, Strände und Nachtclubs an den Ufern. Das brachte ihnen Inspiration für Budapest: »Wir mussten mit kleinen Aktionen starten. Hätten wir von Anfang an gesagt, dass Autos aus dem unteren Uferbereich verbannt werden sollen, wären wir für verrückt erklärt worden.«

Die erste Initiative war das sogenannte »Valyo-Ufer« an der Kettenbrücke in den Sommern 2012, 2013 und 2014 – ein Naherholungsgebiet mit bunten Bänken, Liegestühlen und Freizeitprogramm. »Es war relativ einfach zu organisieren«, sagt Lohász. »Wir holten die Genehmigung der Stadtverwaltung für die Nutzung des öffentlichen Raums ein. Unser Ziel war es, dass die Menschen diese Art der Ufernutzung später vermissen.« Die nächste Großaktion fand auf der Freiheitsbrücke statt. 2016 wurde wegen Bauarbeiten der Verkehr auf ihr für einen Monat gesperrt. »Schon nach ein paar Tagen belagerten Menschen die Brücke. Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, manche machten sogar Yoga. Daran knüpften wir den darauffolgenden Sommer an.« Mit einer erfolgreichen Unterschriftenaktion ermöglichte Valyo eine autofreie Freiheitsbrücke an vier Wochenenden in 2017. »Alle Stadtbewohner*innen konnten mitgestalten«, erzählt Lohász. Die Events umfassten Tai-Chi-Kurse, Klassik- und Rockkonzerte, Malkurse, Theateraufführungen und Zirkusshows. »Die Menschen schufen einen demokratischen öffentlichen Raum, in dem alle sozialen Schichten und Altersgruppen vertreten waren.« Finanziert wurde dies über Crowdfunding. Laut Lohász zeigten die Aktionen, dass öffentliche Räume verschiedene Funktionen haben: »Man muss nicht immer zwischen Autobahn oder Spielplatz entscheiden. Derselbe Ort kann unter der Woche als Straße und an Wochenenden als Picknickplatz genutzt werden.« Gleichzeitig wollte Valyo die Kommerzialisierung der Plätze vermeiden: »Es sollte kein Konsumzwang herrschen, ein teures Foodtruckfestival kam für uns nicht in Frage.«

Politikum öffentlicher Raum

Ein großer Meilenstein in der Geschichte Valyos ist die Errichtung eines kostenlosen öffentlichen Strandes in Budapest in Zusammenarbeit mit der NGO Fák a Rómain (Bäume am Römischen Ufer). »Der Kieselstrand am Római-Ufer ist für mich auch eine symbolische Errungenschaft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Donau als schmutziges und stinkendes Wasser, in das man nicht einmal seinen kleinen Zeh stecken sollte«, schildert Lohász. Tatsächlich war das Schwimmen in der Donau in Budapest seit 1973 verboten. Nachdem ein modernes Wasserreinigungssystem installiert wurde, und Testtage in 2019 und 2020 stattfanden, eröffnete die Stadt 2022 einen öffentlichen Strand mit Badeaufsicht. Das erste Mal seit fast 50 Jahren konnten die Budapester*innen wieder sicher in ihrem Stadtfluss schwimmen.

Der Strand ist beispielhaft für Valyos Zusammenarbeit mit dem Stadtrat. »Unsere Aufgabe ist es, das Potential bestimmter Veränderungen aufzuzeigen. Wenn sich unsere Versuche als erfolgreich erweisen, werden sie Teil der Stadtpolitik und wir können uns zurückziehen«, meint Lohász. Im Falle des Strandes bestünde ihre Rolle nur mehr darin, bedarfsweise mit ihrem Expert*innenwissen zu unterstützen. Und dieses ist breit gefächert. Unter den mittlerweile 30 Mitgliedern von Valyo finden sich verschiedenste Berufsfelder.

Lohász erkannte, dass es vor allem ab 2018 eine politische Wende mit Donau-Schwerpunkt gab. Der Fluss tauchte immer öfter in politischen Debatten auf und Bürgermeisterkandidat*innen begannen über die Donau und ihre enge Verbindung zur Stadt zu sprechen. Sie bemerkte auch den großen Erfolg des Projektes an der Freiheitsbrücke: Konkurrierende Parteien verwendeten Fotos der Brücke voller Menschen in ihren Kampagnen. Lohász wertet dies als Erfolg, denn Autofahrer*innen galten in Budapest stets als wichtige Zielgruppe für Politiker*innen. Mit dem Wechsel in der Stadtregierung von der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz zu einem Oppositionsbündnis wurde die Zusammenarbeit Lohász zufolge noch einfacher. Im Oktober 2022 unterzeichnete Valyo im Budapester Rathaus gemeinsam mit 17 weiteren Organisationen und Behörden eine Erklärung über die Zukunft des Ufers auf der Pest-Seite der Stadt. Unter den Unterzeichnern waren Organisationen, die sich aktiv für die alternative Gestaltung des unteren Damms aussprachen, und jene, die zuvor dagegen waren. Sie alle kamen zur Einigung, dass der Damm zugänglicher für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen werden soll.

Probieren und Studieren

Stadtplanung ist ein sensibles Unterfangen, es müssen die Interessen verschiedenster Stakeholder*innen beachtet werden. »Bei der Gestaltung des Valyo-Ufers merkten wir, dass sogar Radfahrer*innen den Raum unterschiedlich nutzen, abhängig davon, ob sie Rennrad, Stadtrad, oder gemeinsam mit Kindern fahren«, resümiert Lohász. Valyos Ansatz nennt sich daher »taktischer Urbanismus«. Neue Ideen werden zuerst getestet, bevor man sie in großem Maßstab umsetzt. »So können wir sozialen Konsens erreichen.« Auch wenn ihr persönliches Ziel ein autofreies Ufer sei, weiß Lohász, dass sich dieses in weiter Ferne befindet. Phasenweise Autosperren würden aller dings Ideen liefern, wie diese Räume neu genutzt werden können. »Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig öffentliche Räume in einer überfüllten Stadt sind – Menschen sehnten sich danach, ihre Beine im Grünen zu vertreten. Dies hatte eine stärkere Wirkung als eine jahrelange Sensibilisierungskampagne.« Deswegen ist sich Lohász auch sicher: »Wenn wir wirklich wollen, finden wir für alle einen vernünftigen Kompromiss.«

 

Cili Lohász ist ausgebildete Biologie- und Chemielehrerin sowie Geografin. Sie arbeitete als Bildungsexpertin für Klimaanpassung und nachhaltige Energienutzung, bevor sie Valyo mitgründete.

Anita Gócza arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturelle Themen sowie als Dozentin für Online- und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.

 

Verschwommene Grenzen im Nordkosovo

Durch den Gazivodasee verläuft die Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Beide Länder befinden sich in einem jahrzehntelangen Konflikt, der auch in die Verwaltung des Sees einfließt. SOPHIA BEITER sprach mit LJUBIŠA MIJAČIĆ über unterschiedliche Zukunftsszenarien.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Im glasklaren Wasser des Gazivodasees (albanisch: Ujëmani See) spiegeln sich sanfte Hügel, die zu sandigen Badebuchten abfallen. Hier und da tuckert ein Fischerboot vorbei. Der Stausee ist ein beliebtes Erholungsgebiet. Im Sommer entfliehen hier viele Einwohner*innen der nahegelegenen Stadt Mitrovica dem urbanen Lärm. Doch hinter der idyllischen Fassade schwelt ein jahrzehntelanger Konflikt: Der bis zu 100m tiefe und 22km lange Stausee liegt zu 80% in der kosovarischen Gemeinde Zubin Potok. Im Norden erstreckt sich das Gewässer über die Grenze in die serbischen Gemeinden Tutin und Novi Pazar. Für Serbien, das den seit 2008 unabhängigen Staat Kosovo nicht anerkennt und als autonomes Gebiet innerhalb der eigenen Grenzen betrachtet, ist der See zur Gänze auf serbischem Territorium. Doch Kosovo, dessen Bevölkerung und Industrie stark von der Wasserzufuhr aus dem See abhängig sind, erhebt ebenso Ansprüche auf das Grenzgewässer. So wird der Gazivodasee – einst symbolisch für jugoslawische »Brüderlichkeit und Einheit« – ein Monument der umgekehrten Art.

Der Norden Kosovos wird großteils von der serbischen Minderheit bewohnt, was das Gebiet zum Hauptschauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Belgrad und Priština macht. Bis heute gelingt es dem Kosovo nicht, die nordkosovarischen Gemeinden zu integrieren. Gleichzeitig sehen serbische Politiker*innen die Serb*innen in der Region von der ethnisch albanischen Mehrheit im Kosovo bedroht. Ljubiša Mijačić, selbst Serbe aus dem Nordkosovo, berichtet von einer zunehmend angespannten Lage. Der Umweltspezialist, der sich seit Jahren mit dem See beschäftigt, sagt: »Seit dem Herbst 2022 wird die Region zunehmend militarisiert.« Bereits davor kam es im Streit über Ausweisdokumente und Nummernschilder zu Straßensperren nahe des Gazivodasees.

Unklare Zuständigkeiten

Auch der See selbst wird oft zum Streitthema. Der Damm am Fluss Ibar wurde 1977 errichtet. »Die Idee dahinter war, die wirtschaftliche Entwicklung der industriell schwachen Provinz Kosovo voranzutreiben. 1984 wurde ein Kanal gebaut, der das Wasser ins Zentrum des Kosovos lenkt«, erzählt Mijačić. 11km2 Land wurden im Zuge der Errichtung geflutet, über 2000 Menschen mussten umgesiedelt werden.

Die Verwaltung des Sees übernahm die von der autonomen Provinz Kosovo geführte Firma Ibar Lepenac. Doch mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens und der darauffolgenden Unabhängigkeitserklärung Kosovos geriet diese in Kosovos staatliche Hand – ein Staat, den Serbien bis heute nicht anerkennt. Daraufhin gründete Serbien die JP Ibar zur Verwaltung des Sees. »Die Firmen erkennen sich gegenseitig nicht an und beanspruchen jeweils die Verwaltung des Sees für sich«, erläutert Mijačić. In der Realität betreut Ibar Lepenac jedoch nur den Kanal und verdient somit an der Belieferung kosovarischer Unternehmen mit Wasser. Darüber hinaus versorgt sie rund 200.000 Kosovar*innen mit Trinkwasser. JP Ibar kümmert sich um die Instandhaltung von See und Damm. Dadurch schafft die Firma Arbeitsplätze im Nordkosovo, generiert allerdings kaum Einnahmen und muss sich auf die finanzielle Unterstützung Serbiens verlassen. »Von wem soll JP Ibar Geld verlangen? Die kosovarischen Firmen, die das Wasser erhalten, erkennen weder den serbischen Dinar als Zahlungsmittel noch die Firma selbst an«, sagt Mijačić.

Kosovo besitzt wenige alternative Wasserressourcen. »Es gibt kaum Niederschlag und keine anderen großen Flüsse, die zur industriellen Wasserversorgung genutzt werden.« Das mache das Land abhängig vom Gazivodasee. »Wenn die Wasserversorgung aus dem See gestoppt oder reduziert würde, käme die Industrie im Kosovo zum Erliegen«, stellt Mijačić fest. Auch wenn so ein Szenario unwahrscheinlich sei, sollte die regionale Verflochtenheit über den Fluss Ibar nicht unterschätzt werden. Dieser entspringt in Montenegro und fließt nach Serbien, wo er bei Ribariće den Stausee befüllt. Von dort fließt der Ibar im Kosovo weiter Richtung Mitrovica und anschließend zurück nach Serbien. Zieht Kosovo mehr Wasser aus dem See zur eigenen Versorgung, hat das Auswirkungen auf den Rückfluss nach Serbien. Beschließt Serbien aufgrund von Investitionen im Industriesektor am oberen Teil des Flusses mehr Wasser abzuzweigen, würde Kosovo darunter leiden.

Umweltschutz als Ansatzpunkt

Wassermangel wird in Zukunft aber auch ohne diese Interventionen zum Problem. Die Folgen des Klimawandels machen sich bereits bemerkbar. »Es braucht Schnee im Winter, um die Wasserkapazität im Frühjahr zu erhöhen. Andernfalls gibt es im Sommer Niedrigwasser«, erklärt Mijačić. Der letzte Winter zeigte wiederum, dass auch zu viel Wasser problematisch ist. Aufgrund der milden Temperaturen regnete es im Jänner sehr stark. »Seit Bestehen des Staudamms gab es nie so viel Druck auf den Damm. Die Schleusen mussten geöffnet werden, das Tal wurde geflutet. Zahlreiche Häuser waren von der Überschwemmung betroffen.« Hinzu komme Wasserverschmutzung, insbesondere des Ibar im Kosovo. Das Wasser aus dem Gazivodasee ist sauber. Bei Mitrovica mündet jedoch der Nebenfluss Sitnica in den Ibar und mit ihm Abwässer von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft. In diesem Zustand fließt der Fluss schließlich zurück nach Serbien. »Umweltbelastungen bergen Gefahren für Wirtschaft und Gesundheit. Das verursacht Konflikte«, meint Mijačić. Eine verbesserte Zusammenarbeit von Serbien und Kosovo sei deshalb unabdinglich.

Doch wo setzt Kooperation in einer so nationalistisch aufgeladenen Situation an? Mijačić sieht Potential beim Umweltschutz: »Um den Dialog zu starten, sollte mit etwas begonnen werden, bei dem keine Seite die Vorherrschaft an sich reißt.« Er hat auch eine Idee, die den Verband serbischer Gemeinden im Nordkosovo involviert. Der EUVorschlag zu diesem Gemeindeverband, der seit 2013 diskutiert wird, aber bisher nicht umgesetzt wurde, umfasst eine stärkere Selbstverwaltung der mehrheitlich serbischen Gemeinden im Kosovo. Die Gemeinde Zubin Potok, in dem der Gazivodasee liegt, würde ebenfalls Teil dieses Gemeindeverbandes werden. Da der Ibar in die Morava mündet und diese schließlich in die Donau fließt, sei die Sauberkeit des Flusses auch mit der Wasserqualität der unteren Donau verbunden. »Kosovo ist im Gegensatz zu Serbien allerdings nicht Teil der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD), da einige Mitgliedstaaten der Initiative die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennen. Die Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes wird allerdings von allen unterstützt«, betont Mijačić. Daher könne eine vom serbischen Gemeindeverband verwaltete Umweltabteilung – beauftragt von der kosovarischen Regierung – womöglich Teil der IKSD werden. »Damit hätte Kosovo Zugang zu Informationen, um Umweltschäden vorzubeugen.« Zudem wären die Kosovo-Serb*innen in die Verwaltung des Sees eingebunden, was ihre Integration innerhalb Kosovos begünstige. Das verringere das Risiko, dass Serbien mehr Wasser vom Ibar abzweigt. Denn dann müsste Serbien nicht nur mit dem Widerstand von Kosovo-Albaner*innen, sondern auch von den Serb*innen im Kosovo rechnen. Auch wenn es naiv klinge, laut Mijačić bestehe dadurch eine Chance, dass »die Serb*innen im Nordkosovo zu Hüter*innen des Wassers für die KosovoAlbaner*innen werden.«

Trübe Aussichten

Die Umsetzung solcher Vorhaben bleibt aber schwierig. Die nationalistischen Narrative seien zu festgefahren und es gebe keine öffentliche Debatte über den See. Mijačić folgert: »Zusammenarbeit wurde nie versucht.« Trotzdem gibt er die Hoffnung auf eine Zukunft mit gemeinsamen Zielen nicht auf – denn die zunehmende Wasserknappheit wird die Region weiter unter Druck setzen. Er weiß: »Es ist im besten Interesse von Belgrad und Priština Mechanismen der Zusammenarbeit zu schaffen. Und das am besten schon gestern.«

 

Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und ethnische Minderheiten.

Ljubiša Mijačić beschäftigt sich mit der Wassersicherheit im Kosovo und entwickelte Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserressourcen im Rahmen der interethnischen Versöhnung. Seine Vorschläge präsentierte er Stakeholder*innen des Belgrad-Priština-Dialogs.

Joining Forces for Research on Migration in Central Europe – Malwina Talik at the Conference “European Asylum Policy after Ukraine”

A debate with Sebastian Schäffer (IDM) about the EU Summit on Asharq News

IDM Director Sebastian Schäffer was invited to talk about the priorities of the current EU summit in Brussels for Asharq News, a TV station based in Dubai. Together with colleagues from Berlin and Paris, he analysed possible outcomes, especially with regards to security guarantees for Ukraine as well as the next round of sanctions towards the Russian Federation. When being asked who is paying are higher price for the sanctions, Moscow or Brussels, Schäffer stated that Ukraine in paying the highest price with being invaded, infrastructure being destroyed as well as people being killed. The upcoming NATO summit as well as the relationship between the EU and China were also part of the discussion. 

United for Democracy: First annual meeting of the Team Europe Democracy Initiative (TED) Network

 

“The global level of democracy is back to 1986” – stated Staffan Lindberg, the Director of the V-Dem Institute of the University of Gothenburg, during his talk at the first TED Meeting in Brussels on 21 June 2023. In his presentation, he showcased graphs from the V-Dem Democracy report, underscoring this concerning reality. In 2022, the average number of people living in liberal democracies declined to the level seen in 1986, a year marked by the Cold War and the Reykjavik summit meeting between Gorbachev and Reagan. The progress achieved since then in shaping and strengthening democracies now appears to be crumbling – beyond the borders of the European Union but also within the EU itself. We are witnessing the constriction of fundamental freedoms, power centralisation and the rise of autocracy in many countries around the world. 

To counter such alarming trends, the European Commission and 14 Member States launched the thematic initiative Team Europe Democracy (TED) in 2021. It aims to actively promote democracy, human rights, and more effective interventions in support of democracy worldwide, and it seeks to provide a platform for experts to exchange ideas and collaborate on these topics. Furthermore, it wants to serve as an interface between EU institutions, Member States, think tanks and NGOs. The TED initiative is built upon three interconnected pillars, which should complement one another: 1) research on democratic support best practices and policies, 2) the TED Network, and 3) providing expertise at the country level.  

As part of the TED network, the IDM received an invitation to take part in the first annual meeting. IDM Research Associate Sophia Beiter attended the meeting, the primary goals of which were to provide information about the initiative, to start the networking activities and to jointly develop a working plan for the following year. Participants contributed ideas for the working plan, focusing on three thematic areas: 1) Accountability and Rule of Law, 2) Political and Civic Participation, and 3) Media and Digital.