Monumente der Berührung

Zwei Hände, etwas Ton und fertig ist der Abdruck. Mit ihrem sozialen Kunstprojekt setzen MEIKE ZIEGLER und IVÁN GÁBOR ein Statement gegen die Kontaktlosigkeit. FRANCESCO BARBATI sprach für INFO EUROPA mit den InitiatorInnen von Handshape über die Kunst des Händereichens.

Simpel und kraftvoll: Ein Händedruck verwandelt Fremde in Bekannte. Eine Geste, die innere Mauern einreißt. Meike Ziegler und Iván Gábor stellen das Symbol der Einheit in den Mittelpunkt ihres Projekts Handshape. Das kreative Duo führte ein soziales Experiment durch, bei dem sich mehr als 22.000 Fremde aus ganz Deutschland, Europa und der Welt begegneten. Aus diesen Begegnungen entstanden Handshapes, kleine Gebilde, die beim Händeschütteln aus Ton geformt werden. Die »Handabdrücke« wurden anschließend zu einem Monument zusammengefügt. Jeder Abdruck bekam einen Namen, ein Wort oder Thema, das die beiden Personen verbindet. Trotz Einschränkungen führten Ziegler und Gábor das Projekt auch im Sommer 2021 durch.

Wie kam es zu Handshape und was hat die Pandemie verändert?

Meike Ziegler: Ich hatte Handshape ursprünglich für die Feiern zur Wiedervereinigung Deutschlands 2018 entworfen. Als ich es im Senat vorstellte, meinten sie, es wäre passender für den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Also machten wir es für diesen Anlass. Schon damals hatte ich vor, dieses Ritual weit in die Welt hinauszutragen. Es ist ein Konzept, das man dorthin bringt, wo es gebraucht wird. Durch Handshape hatten wir das Privileg, viele Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Menschen, deren Leben sich sonst niemals kreuzen würden.
Iván Gábor: Als wir Handshape 2019 ins Leben riefen, hatte ich keinen Zweifel, dass es ein Erfolg wird. Für viele ist es nicht selbstverständlich, sich mit Fremden zu verbinden. Wir alle haben unsere instinktiven Ängste. Aber ich merkte, dass sich diese Wahrnehmung nach den ersten Minuten änderte, sobald ein Gespräch begann.
MZ: Die Pandemie wirkte sich auf mein Leben und meine Arbeit aus. Wir alle scheinen derzeit müde und abgestumpft zu sein. Es gibt eine große Sehnsucht nach sozialen Ereignissen und ein Bedürfnis nach menschlicher Verbindung. Während der langen COVID-Pause gestalteten wir ein Buch, in dem wir die Handformen als Fossilien ausstellten. Ich fing auch an, online Kreativ-Workshops zu geben und Konzepte für das Humboldt Forum oder das House of One zu entwerfen. Ivan und ich verbrachten viele Stunden damit, uns zu unterhalten und zu verstehen, wie es weitergeht. Ich habe auch viel über mich selbst und die Kraft dieser Arbeit gelernt.
IG: Als Handshape im letzten Sommer wieder in der East Side Gallery stattfand, hatten 90 Prozent der Teilnehmenden kein Problem
damit, sich die Hände zu schütteln. Das gab mir Hoffnung, irgendwann wieder zur Normalität zurückkehren zu können.

Meike, Sie bezeichnen sich selbst als kreative Alchemistin. Was können wir darunter verstehen?

MZ: Nachdem ich einige Jahre im Bereich Multimedia- und Internet-Branding gearbeitet hatte, verspürte ich einen Mangel an Bedeutung und den Drang, Menschen durch greifbare Objekte in Echtzeit zu verbinden. Ich bezeichne mich nicht als Künstlerin. Ich schaffe keine Kunst. Ich entwerfe Lösungen für soziale Fragen und Probleme, die danach schreien, angesprochen zu werden. Ich entwerfe Creatuals, also kreative Rituale (creative rituals), um Muster zu durchbrechen und Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Alchemie hat mich schon immer interessiert. Es geht darum, Gold zu erschaffen. Ich liebe es, mit Symbolen zu arbeiten bis ein Konzept für ein bestimmtes Problem einfach, kraftvoll und rein wie Gold ist.

Wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, dass Menschen nicht nur miteinander in Kontakt treten, sondern sich auch verbunden fühlen?

MZ: Die Digitalisierung ist ein großartiges Werkzeug für globale Vernetzungssysteme und menschliche Verbindungen. Sie bringt Menschen zusammen, aber es fehlt der wichtigste Sinn, den wir TOUCH (Berührung) nennen. Die digitale Verbindung wird niemals physisches Zusammenkommen übertreffen. Wir können einen Händedruck oder eine Umarmung weder imitieren noch fälschen. Ich glaube, es wird immer eine Sehnsucht nach analoger und realer Berührung geben.

Berlin ist auch ein Sehnsuchtsort, ein Magnet, der viele anzieht. Warum sind Sie beide nach Berlin gekommen?

MZ: Ich bin in meiner Kindheit viel gereist. Mein Vater war ein Stadtplaner und Designer. Ich wechselte oft das Land und die Schule und genoss es, in verschiedenen Kulturen zu leben. Das hat mich und meine Denkweise geprägt. Ich fühlte mich als Weltbürgerin und nicht als Angehörige einer Nation. Für mich als Kind wurden Grenzen in Köpfen geschaffen. Mein Partner bekam 2016 einen Job als Museumsdirektor in Berlin, also zogen wir mit unseren Kindern hierher. In Berlin angekommen, sagte jemand zu mir: »Du brauchst Berlin nicht. Berlin braucht dich!« Vielleicht hatte sie recht, und ja, Berlin ist wie ein Magnet. Es ist schwer zu beschreiben, was es mit dieser Stadt auf sich hat. Ich schätze, es sind die Geschichte und die leichte Spannung, die man immer noch zwischen Ost und West spürt.
IG: Ich bin 2016 aus Ungarn nach Berlin gezogen, um hier dauerhaft mit meiner Familie zu leben. Wir waren davor häufig in Berlin. Es gab immer einen Grund, hinzufahren. Ich habe die Berliner Mauer 1984 am Checkpoint Charlie passiert, und bin nach 1990 unzählige Male hingefahren, um die Veränderungen zu bewundern und den Berliner Freiheitsgeist zu genießen. Nachdem 2014 in Ungarn die illiberale Demokratie ausgerufen wurde, beschlossen wir, eine neue Heimat zu suchen, und Berlin war eine leichte Wahl.

Iván, wie steht es um Kunst und Kultur in Ungarn angesichts des Aufstiegs von Nationalismus und Populismus?

IG: Die Frage ist schwierig. Der aufkommende Nationalismus des 18. Jahrhunderts beeinflusste lange kulturelle Entwicklungen in Europa. Die Literatur, bildende Kunst und Musik zeugen davon. Der Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie brachte enorme Veränderungen. Und die Härte des 20. Jahrhunderts machte die nationale Idee obsolet. Die europäische Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Idee des Nationalstaates zu begraben und zu jener Vielfalt zurückzukehren, die über Jahrhunderte hinweg üblich und natürlich war. Heute benutzen PopulistInnen nationale Gefühle, um sich den Veränderungen zu entziehen, die neue Technologien, soziale Probleme, Folgen der Globalisierung oder Ökologie einfordern. Ich wünschte, wir könnten mit Handshape durch Mittel- und Osteuropa reisen und versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische zusammenzubringen. Ich bin überzeugt, dass Handshape ein Format ist, das das Eis zwischen Menschen brechen kann.

Einige MinisterInnen haben die EU-Kommission kürzlich dazu aufgefordert, Mittel für Grenzmauern oder Zäune bereitzustellen, um Flüchtende an der Einreise aus Belarus zu hindern. Wie können wir Offenheit und Dialog fördern, anstatt Symbole der Teilung wieder aufleben zu lassen?

IG: In dieser Frage bin ich ein Idealist und Optimist. Ich werde nie aufhören, daran zu glauben, dass sich Mentalitäten ändern können. Wandel brauchen wir auf allen Ebenen. Veränderung beginnt mit Aufgeben und Loslassen. Deshalb ist das einzige Merkmal von Veränderung, dass sie wehtut. Kein Schmerz, keine Veränderung. Die Verbindung zwischen Menschen schafft den notwendigen Durchbruch. Die Beweggründe des anderen zu sehen und zu verstehen, lässt uns über uns selbst nachdenken.

Woran arbeiten Sie aktuell?

MZ: Ich war Anfang Februar in der Nähe von Narva in Estland, an der russischen Grenze, und habe dort Workshops für junge soziale AktivistInnen und FriedensstifterInnen gegeben – RussInnen und EstInnen. Die Beziehung der NachbarInnen ist auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit komplex. Sie kämpfen mit verschiedenen Problemen. Beide Kulturen sind zu stolz und starrköpfig, um Empathie zu zeigen, nachzudenken und Kontakte zu knüpfen. Obwohl sie sich danach sehnen, gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten, gibt es eine große Kommunikationslücke, Frustration und Angst. Wir versuchten mit Hilfe der Methode des Creatuals Lösungen zu finden. Als sie miteinander sprachen, erkannten sie ihre Ängste, das mangelnde Zuhören, ihre Vorurteile, wiederholte Fehler, und wie großartig es ist, sich zu verbinden. Sie erkannten, wie viel sie gemeinsam haben. Mein Fokus hat sich während der Pandemie verändert und ich verspüre den Drang, nicht nur Konzepte zu entwerfen, sondern auch mehr zu lehren. Ich habe mich entschlossen, eine Kreativ-Akademie zu gründen und Menschen und Führungskräfte darin zu unterrichten, Rituale für ihren eigenen Transformationsprozess zu schaffen und anderen zu helfen.
IG: In den letzten sechs Monaten arbeiteten wir auch an dem wunderbaren House of One-Projekt. Im Zentrum Berlins wird ein fast 40 Meter hohes Gebäude gebaut, das eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche unter einem Dach versammelt. Die drei religiösen Räume sind mit einem zentralen Raum, dem vierten Raum, verbunden. Wir entwickelten eine wunderbare Methode, um das House of One zu einem Erlebnis zu machen, das das Herz berührt. Außerdem arbeiten wir mit hervorragenden Menschen daran, Handshape zu einem globalen Symbol für menschliche Verbindungen zu machen.

handshapeProject.com

creatuals.com


Francesco Barbati ist freier Autor, Übersetzer und Redakteur u.a. für Cafébabel. Nach Grundstudien in Linguistik und Kommunikation studiert er aktuell European Studies and Management of EU-Projects in Eisenstadt.

Meike Ziegler wurde in Florenz, London und Utrecht ausgebildet. Sie arbeitete als Multimedia- und Konzeptdesignerin in verschiedenen Städten und gründete 2009 die Marke Creatuals. Sie bezeichnet sich selbst als »kreative Alchemistin«: Indem sie originelle, maßgeschneiderte, moderne Rituale entwirft, bringt sie Menschen, Situationen, Orte und Objekte auf intuitive Weise zusammen.

Iván Gábor ist Kommunikationsexperte und Berater. Er arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte am Aufbau einer der größten Agenturgruppen in Ungarn, dessen Netzwerk 16 Länder Osteuropas umfasst. Seit 2016 lebt Iván Gábor mit seiner Familie in Berlin, wo er eine Firma für geflüchtete GrafikdesignerInnen gründete, um Kreativen bei der Integration zu helfen.

Wer den letzten Strohhalm zieht

Durch die Pandemie erlitten Menschen weltweit Verluste: Sie verloren manche Freiheiten, alltägliche Gewohnheiten, sogar geliebte Menschen. Anhand des Abschieds vom Plastikstrohhalm zeigt MARTINA PETROVIĆ auf, wie Rituale uns bei Verlusten aller Art helfen können – und das über kulturelle Grenzen hinaus.

Als Künstlerin hatte ich schon vor Beginn der Pandemie kein geordnetes Leben. Vielleicht verfügte ich nie über dieses Privileg, vielleicht bin ich auch einfach nicht der Typ dafür. Wie dem auch sei, ich hatte nie die Gewissheit von morgen. Zugegeben, ich empfand zu Beginn der COVID-Krise eine gewisse Erleichterung, dass wir uns nun alle in der gleichen Situation der Unsicherheit befanden. So schrecklich es auch klingen mag, war es doch tröstlich für mich. Plötzlich war jede und jeder verwundbar, natürlich nicht im gleichen Ausmaß, aber doch… Heute, zwei Jahre später, hat sich diese Verletzlichkeit fast ins Unerträgliche gesteigert: die Unsicherheit der Kultur, des Zusammenseins, der Intuition und Spontaneität, des bloßen Seins… all das hat die nächste Stufe der Unvorhersehbarkeit erreicht. Wir leben außerhalb unserer Komfortzone, außerhalb des Vertrauten.

Der Verlust

Als Gesellschaft haben wir bereits viel verloren, und wir sind dabei, noch mehr zu verlieren: unser übliches Umfeld, unsere Technologien und die damit einhergehenden sozialen Gewohnheiten. Es gibt keine Formel dafür, wie wir mit dem Verlust umgehen. Die Unterschiede zwischen uns zeigen sich in den vielen einzigartigen Ausdrucksformen der Trauer. Die Motivation für meine künstlerische Arbeit sehe ich in dem Bedürfnis, besser zu verstehen, was es bedeutet, Rituale für den Verlust zu schaffen. Ich will verstehen, wie wir mit dem unvermeidlichen Verlust von Teilen unserer Kultur, unserer Menschlichkeit, der Veränderung unserer Denk- und Verhaltensweisen, umgehen. Der Klimawandel lässt Arten und Lebensräume beängstigend schnell verschwinden. Technologien und Lebensweisen werden aufgegeben und ersetzt. Ich frage mich, wie wir uns Zeit nehmen können, um zu trauern. Wie können wir uns darin üben, verletzlich zu sein, unser Leben zu entschleunigen und zu akzeptieren, was auch immer auf uns zukommen mag? Mein Gefühl der Deplatzierung und mein Bedürfnis nach einer starken Verbindung zu meiner Kultur wurden dadurch verstärkt, dass ich mittlerweile in Belgien wohne. Meine künstlerischen Interessen verbinde ich mit den Traditionen und Ritualen des Balkans, wo meine Wurzeln sind. Es ist eine Untersuchung heiliger Rituale: die Handarbeit der Frauen dieser Region, ihre Symbole und ihr Wirken auf die moderne Kultur und alltägliche Praktiken. Rituale ermöglichen es uns, eine Verbindung mit der Natur, mit uns selbst und mit unserer Umwelt zu kultivieren. Wenn es uns gelingt, solche Bindungen zu knüpfen, können wir vielleicht auch uns selbst, unseren Gemeinschaften und der Natur gegenüber mit mehr Demut und Respekt begegnen. Wir könnten so auf eine umweltbewusste Gesellschaft hinarbeiten, die keine strikten Grenzen zwischen Natur und Kultur zieht, sondern sie als zwei gleichwertige Seiten derselben Medaille begreift.

Trauer zulassen

Das Projekt The Last Straw (Der letzte Strohhalm) begann während einer provokanten und auf den ersten Blick frivolen Trauer über den Verlust von Plastikstrohhalmen. Im Januar 2019 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Verwendung aller nicht recycelbaren Plastikgegenstände verbietet. The Last Straw aktiviert einen Raum der Trauer, indem er Möglichkeiten bietet, sich von Gewohnheiten und Technologien zu verabschieden, selbst wenn es schlechte waren. Unser Abschied von ihnen ist für das Überleben und eine bessere Zukunft notwendig. Um den Verlust zu verarbeiten, den wir uns selbst verweigern, tun wir lieber so, als wäre er nicht da, als wäre er irrelevant. Stattdessen sollten wir ihn anerkennen und ehren. Der Ausgangspunkt für The Last Straw war das Weben eines traditionellen serbischen Teppichs. Dieser von Hand gewebte Teppich wurde aus gebrauchten, nicht wiederverwertbaren Plastikstrohhalmen, die ich in den letzten zwei Jahren in den Bars des Marnixplaats in Antwerpen gesammelt hatte, hergestellt. Er wurde mit traditionellen »magischen« Symbolen bemalt. Der Teppich wurde so zu einem nomadischen Raum, der die Geschichte des Loslassens erzählt und die Gelegenheit bietet, einen Moment der Trauer zuzulassen. Da es üblich ist, Trauer in fünf Phasen zu erleben, hat auch The Last Straw fünf Phasen: Verleugnung, Verhandeln, Traurigkeit, Wut und Akzeptanz. Durch traditionelle Trauer- und Bestattungsrituale des Balkans verwandelte sich der Teppich zum Trauerraum.

Verleugnung

Die erste Phase, die Verleugnung, fand vor einem Jahr auf dem Marnixplaats statt – dort, wo die Strohhalme gesammelt wurden. In dem Intermezzo zwischen dem ersten Lockdown und der Hoffnung, dass ein Impfstoff kommen wird, versammelte sich eine Handvoll Menschen, um das Projekt auf den Weg zu bringen. Für die Verweigerung wurde ein Ritual des Waschens des »Verlorenen« durchgeführt. Die Phase der Verleugnung hilft uns, den Schock der Erkenntnis zu überstehen, dass etwas oder jemand für immer aus unserem Leben verschwunden ist.

Verhandeln

Die zweite Phase der Trauer, das Verhandeln, fand dreimal im Jahr 2021 zu verschiedenen Anlässen in Belgien statt. In dieser Phase versuchen wir, der Realität und dem Schmerz des Verlusts zu entgehen, indem wir in der Vergangenheit verharren und einen Weg aus dem Schmerz suchen. Das Feilschen wurde durch das Ritual des Klagens durchgeführt. Das Lamentieren wird in bestimmten südlichen Kulturen von Frauen praktiziert, die den Kummer der Trauernden durch Lieder und Schreie zum Ausdruck bringen. Bei der Durchführung dieses Rituals habe ich zum ersten Mal die Bedeutung von Traditionen und die Zeitlosigkeit der Trauer verstanden.

Traurigkeit

Die dritte Phase, Traurigkeit, fand nie in der Öffentlichkeit statt. Die Rituale wurden im vergangenen Jahr in einer Arbeitsgruppe von KünstlerInnen geteilt. Wir tauschten unsere Bewältigungsmechanismen aus, so wie man geheime Familienkochrezepte austauscht, was einen offenen Umgang mit der Traurigkeit ermöglichte, ohne sie rechtfertigen und entschuldigen zu müssen.

Wut

Die vierte Phase, Wut, fand im Oktober 2021 in Belgrad statt. Sie ermöglichte es, die Wut durch das Ritual des Schlagens auf den Teppich ausleben zu können, um ihn zu reinigen. Wut erlaubt es uns, zu fühlen und unsere Gefühle nicht zu verstecken. Sie ist eine natürliche Reaktion auf die Ungerechtigkeit des Verlustes. Oft kommt es vor, dass uns unsere Wut isoliert, aber wir sollten sie teilen, um sie zu überwinden und sie als das zu sehen, was sie sein kann: eine mächtige kreative Kraft. Wir werden wütend auf uns selbst, weil wir nicht in der Lage sind, eine bestimmte Kette von Ereignissen zu verhindern, wir werden wütend auf andere, wir werden wütend auf die Welt, in der wir leben. Ich sage: »Werdet wütend!«

Akzeptanz

Die fünfte Phase, Akzeptanz, fand im November 2021 im Kunstzentrum deSingel in Antwerpen statt. Akzeptanz ist der Moment im Trauerprozess, der uns dazu einlädt, Frieden mit der Tatsache zu schließen, dass wir in dieser Welt ohne gewisse Menschen, Technologien, Umgebungen und Gewohnheiten weiterleben müssen. Dass diese nun zu der Welt außerhalb unserer Reichweite gehören. Wir verstehen, dass unser Verlust nicht ersetzt werden kann und auch nie ersetzt werden wird. Wir bewegen uns, wachsen und entwickeln uns in unsere neue Realität hinein. Für diese Phase wurde das Ritual des Tanzes für die Toten durchgeführt.

Sinn finden

Wie bereits erwähnt, durchläuft die Trauer in der Regel fünf Phasen, aber es kommt noch eine weitere hinzu: die Sinnsuche. Wir können uns fragen: Welchen Sinn könnte der Verlust haben? Es könnte sein, dass unser Verlust uns einander näherbringt, vielleicht kann er unsere Hoffnung und unseren Glauben wiedererwecken und unser Zugehörigkeitsgefühl vertiefen. Die Suche nach einem Sinn bietet die Möglichkeit, mit Worten und Anwesenden einen magischen Raum zu schaffen, um gemeinsam einen Moment der Heilung und des Neuanfangs zu erleben. Dieses Ritual wird den ersten Zyklus der Trauer um den letzten Plastikstrohhalm abschließen. Es bindet alle Emotionen und Kämpfe der vorangegangenen Phasen zusammen und schafft einen fruchtbaren Boden für zukünftige Phasen. Das Ritual fand am 12. Februar 2022 in De Kunsthal in Gent statt.

Neue Rituale finden

Im Moment ist es sehr schwer, sich einen Reim auf die Situation zu machen oder sich eine mögliche Zukunft vorzustellen, die nicht einem Weltuntergang gleicht. Auch wenn es scheint, dass wir nach dem letzten Strohhalm der Hoffnung greifen, glaube ich, dass es Trost gibt, den Verlust zu teilen. Dass es uns Kraft gibt, sinnvolle Beziehungen zu schaffen. Blicken wir tief in unsere Wurzeln, finden wir in der Vergangenheit die nötige Kraft und Unterstützung, um vorwärtszukommen. Neue Rituale können uns in diesem Prozess der Heilung helfen.

martinapetrovic.com


Martina Petrović versteht sich als eine MultimediaKünstlerin und Abenteurerin vom Balkan. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit der Erforschung sozial erzeugter emotionaler Zustände bezogen auf den Verlust von Werten, die Schädigung der Umwelt und mit dem Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Ungarn nach den Wahlen 2022

Online Podiumsdiskussion veranstaltet vom IDM in Kooperation mit der Politischen Akademie.

Begrüßungsworte Michael Fazekas, Executive Coordinator der Southeast European Cooperative Initiative (SECI), Sebastian Schäffer, Geschäftsführer des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

Briefing über die aktuelle Lage in Ungarn Daniela Apaydin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

 

Podiumsdiskussion:

Daniela Apaydin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

Melani Barlai, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Andrássy Universität Budapest

Dániel Mikecz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

 

Moderation:

Daniel Martínek, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

IDMonSite – Anatoliy Kruglashov

The images from Bucha have shocked the world…. During a seminar organized in 2019 by the IDM together with Ulrich Schneckener (University of Osnabrück) students from Ukraine, Moldova and Germany had to develop future scenarios for Ukraine within the Eastern Partnership framework. In none of them a full-scale war in Ukraine was discussed.  Anatoliy Kruglashov, Head of the Department of Political Science and Public Administration and Director of the Institute of European Integration and Regional Studies at the Yuriy Fedkovych Chernivtsi National University, was co-organiser and host of the Seminar. Sebastian Schäffer, Managing Director of the IDM discusses with him Russia’s unprovoked aggression against Ukraine, the situation in Chernivtsi in wartime and how the worst and unexpected scenario became reality.
Erhard Busek

Mourning for a great (Central) European

The Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM) mourns the death of its chairman, former Vice-Chancellor Dr Erhard Busek. As his family announced on Monday, he passed away in the night of 13/14 March 2022. This news fills us with deep sadness. An obituary.

When the news of Erhard Busek’s passing reached us at the Institute, the first reaction of many colleagues was similar: first speechlessness, then a quick thought: Now of all times, when bombs are falling in Central Europe! Erhard Busek had been deeply affected by the outbreak of war in Ukraine in February 2022. The news and pictures from Kyiv, Lviv, Mariupol and other cities brought back childhood memories of the post-war period for him, being born in Vienna on 25 March 1941. Peace and stability on the European continent were a maxim throughout his life, which he never lost sight of in all his functions and activities. Whether as a politician, intellectual, expert on Eastern Europe and the Balkans, or in his manifold cultural and socio-political commitments, for example as former President of the European Forum Alpbach, to which he remained loyal until the end as a committed Honorary President.

Political Career

Busek attended the humanistic Bundesgymnasium Wien XIX and passed the Matura with distinction in 1959. He then studied law, which he also completed as a student trainee, and graduated in 1963 with a doctorate in law. Busek began his political career in 1964 as Second Club Secretary of the Austrian People’s Party (ÖVP). In 1968 he joined the Federal Executive of the Austrian Economic Association, was its Deputy Secretary General from 1969 and its Secretary General from 1972 to 1976. From 1975 he sat for the ÖVP in the National Council and was appointed the party’s new Secretary General in the same year. He relinquished this office a year later after being elected provincial party chairman of the Vienna People’s Party. From 1976 Busek was also a city councillor in Vienna and became deputy mayor in the Vienna City Hall. In order to be able to devote himself fully to his municipal political work, he resigned from his National Council mandate in 1978. In February 1980 Busek became deputy federal party leader of the ÖVP, and in May 1981 he also joined the presidium of the ÖVP Economic Association.

Busek was also involved in many political fields, including environmental, education and health policy, and continued to be a brilliant expert on Central and East European policy. In 1989 Busek was appointed Minister of Science and in 1991 Vice-Chancellor. In 1992, as Minister of Science, Busek sought the „emancipation of universities away from the centuries-old tradition of regulatory addiction in this area“ with the controversial draft of a new University Organisation Act (UOG) and a study reform. In 1994-1995 he took over as Minister for Education and Cultural Affairs.

After leaving the government, Busek initially resumed his work in the National Council, but resigned again in July 1995. He found a new task away from current day-to-day politics at the Vienna „Institute for the Danube Region and Central Europe“, of which he was chairman. His office in Hahngasse in the 9th district was until the end not only a meeting place for international political guests and journalists from the region, but also for those seeking advice and all those seeking expertise and contacts in Eastern, Central and South-Eastern Europe. Above all, the office was always a place of open doors and conversations thanks to the warm hospitality of Busek’s assistant and long-time colleague Gabriele Buchinger.

Boundless commitment to Eastern, Central and South-Eastern Europe

As early as the 1960s, Erhard Busek travelled to the countries behind the Iron Curtain to get his own picture of the political and social conditions there. He maintained relations with the opposition of the Prague Spring of 1968 in Czechoslovakia, was a member of the dissident movement „Charta 77“ and was also privately closely networked with civil movements and opposition groups in the former Eastern Bloc. After 1989, Busek therefore enjoyed great trust among the new political leaders. In December 1996, he was appointed coordinator of the „Southeast European Cooperative Initiative“ (SECI) provided for in the Dayton Agreement and thus took over the promotion of cross-border economic cooperation between ten Balkan states.

In March 2000, he was appointed „Government Envoy for EU Enlargement“. Busek’s task was, on the one hand, to communicate the Austrian positions to the accession candidates and, on the other hand, to solicit understanding for the aspirants in Austria. From January 2001, as „Coordinator for the International Stability Pact for South Eastern Europe“ (today: Regional Cooperation Council – RCC), he was actively involved in supporting the reconstruction of the countries shattered after the civil wars.

Beyond politics, in addition to several activities in the economy, including as President of the Vienna Economic Forum (2005-2016), he was also frequently active in higher education, for example as Rector of the newly founded Salzburg University of Applied Sciences (2004-2011), as a lecturer at the Vienna University of Technology and as a visiting professor at Duke University in North Carolina, USA. In 2008 he was awarded the Jean Monnet Professorship ad personam, which he held at the Salzburg University of Applied Sciences and the University of Graz. The higher education landscape of South-Eastern Europe was a particular concern of his, which is why the former Minister of Science continued to promote academic education in the region as Chairman of the Supervisory Board of the „IEDC-Bled School of Management“ in Slovenia and as a patron at the Center for Advanced Studies Southeast Europe (CAS SEE) in Rijeka. This also includes the Danubius Award presented by the IDM and the Federal Ministry of Education, Science and Research since 2011, which has also been supplemented by the Danubius Young Scientist Awards since 2014.

The promotion of the joint reappraisal and communication of history was just as important to Busek as reconciliation in the Western Balkans. From 2008 to 2018, he was also Chairman of the University Council of the Medical University of Vienna and subsequently a member of the Supervisory Board of the MUW. A great lover of culture, Busek was, among other things, President of the Gustav Mahler Youth Orchestra, President of the Chamber Music Festival Lockenhaus and Vice-President of the Gottfried von Einem Foundation.

Farewell to a role model and friend

As IDM Chair, he was keen to „not be a think tank, but a do tank“. Among the more recent testimonies to his role as a critical thinker, admonisher and taboo-breaker is his book „Balkans to Europe – Now!“, published in 2021 together with IDM Managing Director Sebastian Schäffer, in which the two call for the Western Balkan countries to join the EU as soon as possible.

It is the combination of Busek’s extensive knowledge, his close-knit network, his love for the region and his profound experience that makes his award-winning and lasting contribution to the region so unique. With his death, we lose a committed representative of the idea of a united Central Europe, a Danube enthusiast and an active European to the end. His unyielding commitment to mutual understanding, readiness for dialogue and his never-ending curiosity and openness for the people and their concerns in the Danube Region will continue to guide us in our activities.

Dear Dr Busek, dear Erhard, thank you for your many years of incredibly energetic work, your inspiration, your humour and your curiosity, which have never been lost on you despite all the ups and downs in the region and in life! You will remain a role model for us and many others as a champion of regional cooperation.

 

Honorary doctorates and awards:

Honorary doctorates from the Universities of Krakow, Bratislava, Czernowitz, Rousse, Brasov, Liberec (2003), Webster-St. Louis University in Vienna, IEDC – Bled School of Management, Vienna (2008), University of Prishtina (2009) and Eötvös Loránd University Budapest (2015), Marmara Group Foundation Medal of Honor (2015), Ukrainian Free University in Munich (2016)

Honorary Professor of the University of Rijeka (2021).

Awards:

Commendatore all’Ordine al Merito della Repubblica Italiana (OMRI) (5.01.1980).

Honorary Senator of the University of Natural Resources and Applied Life Sciences Vienna, Vienna University of Technology, University of Innsbruck, Medical University of Innsbruck

Bulgarian Cross of Merit

„Grand Decoration of Honour in Gold for Services to the Province of Vienna with Star“.

Croatian-Austrian Society Zagreb (2000)

Decoration of Honour „For Services to Polish Culture“ (2003)

„Great Order of the Tyrolean Eagle“ (2004)

„Corvinus Award“ of the European Institute Budapest (2005)

„Great Cross of Saint Sylvester“ awarded by Pope John Paul II (2005)

„Julius Raab Medal in Gold“ awarded by the Austrian Economic Association (2006)

„Pax Mercuria Sympathia“ (2008)

„Dr. Elemer Hantos Prize“ (2009)

Honorary Senator of the Medical University of Innsbruck (2009)

„Golden Badge of Honour of the Municipality of Alpbach“ (2009)

„The European Speech of the Year“ from the European Movement Croatia in Zagreb (2009)

„Order of the White Double Cross 2nd Class for special services to the development of relations between the Slovak Republic and the Republic of Austria and the spread of the good name of the Slovak Republic abroad“ (2011)

„The Merit Award of the Romanian Academy“ (2012)

„Decoration of Honour of the Province of Salzburg“ (2012)

„Honorary Citizenship of the Municipality of Alpbach“ (2012)

„Golden Coffee Setter’s Jug“ (2012)

„Golden Decoration of Honour of the Province of Styria“ (2013)

„Golden Owl“ in the category: Friend of Poland and Poles (2014)

„Freedom Ring“ of the FEK – Fördergesellschaft für Europäische Kommunikation (2015)

„Grand Decoration of Honour of the Vienna Medical Association“ (2016)

„Honorary Citizenship of the Municipality of Lockenhaus“ (2016)

„Donauland Non-Fiction Book Prize 2016“ (2016)

„Grand Decoration of Honour of the Province of Burgenland“ (2017)

„Grand Decoration of Honour of the Vienna Medical Association“ (2018)

„Honorary Senator of the Medical University of Vienna“ (2019)

„Order of Prince Branimir with Neck Ribbon“ from Croatia (2021)

War in Europe

IDM Short Insights 16: Constitutional referendum in Serbia

In January 2022 the citizens of Serbia had to decide whether or not they are for the reform of the constitution. What is the recent constitutional referendum about and how will it impact Serbia’s path to the European Union? Nina Vorgić (IDM trainee) gives an overview of the process and context of the referendum.

 

 

Botschaftervortrag: „Zwischen Frieden und Krieg“ Rumänien und Österreich um 1900

Zwischen Frieden und Krieg“. Rumänien und Österreich um 1900.Szenen einer wohlwollenden Gleichgültigkeit.

Vortrag des Botschafters von Rumänien S.E. Botschafter Emil Hurezeanu am 13.01.2022

In Kooperation mit der Diplomatischen Akademie und der Botschaft Rumäniens in Wien.

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Begrüßung

Gesandte Dr. Susanne KEPPLER-SCHLESINGER Stellvertretende Direktorin der Diplomatischen Akademie Wien

Vizekanzler a.D. Dr. Erhard BUSEK Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa

Mihai Răzvan UNGUREANU Ehemaliger Ministerpräsident von Rumänien Projektmitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

 

Moderation

Erhard BUSEK Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa

Konflikt liegt in der Luft

»Die Abhängigkeit ist ein Problem,« sagt der Ornithologe Matthias SCHMIDT, und spricht sich für eine unabhängige und faktenbasierte ökologische Erhebung bei Windparkanlagen aus. Wird bald im Namen des heißbegehrten »grünen Stroms« der Artenschutz vernachlässigt, fragt ihn Daniela APAYDIN im IDM-Interview.

Ihre Trommeln sind nicht zu überhören. Der kühle Herbstwind lässt ihren lebhaften Rhythmus durch die Menge ziehen. Eine bunte, gutgelaunte Menschenmasse bewegt sich durch die Praterstraße, mit Musik, Megafonen und Transparenten. »Alle für das Klima«, steht darauf, aber auch »Make love, not CO2 «. Das Ziel der Menge ist das Wiener Stadtzentrum, vor ihrem eigentlichen Ziel, dem geforderten sozialen Wandel, liegen jedoch noch viele Hürden. Eltern mit Kleinkindern, SchülerInnen und Studierende, WissenschaftlerInnen, Tier – und UmweltschützerInnen, überzeugte VeganerInnen, Gewerkschaften, sogar kirchliche Einrichtungen marschieren beim Klimastreik 2021 Seite an Seite im Rhythmus der Trommeln. Ihre Dringlichkeit verbindet sie, doch in der Umsetzung und Radikalität ihrer Forderungen liegen Konflikte begraben. Jede Transformation produziert ihre Verlierer. Wie werden die Menschen links und rechts neben mir reagieren, wenn unter dem Zeichen des Ausbaus »grüner Energie« Menschen ihre Jobs verlieren, wenn Tiere zu Schaden kommen, das neue Wasserkraftwerk den Naturraum zerstört oder der Windpark die Zugvögel bedroht? Über das Spannungsfeld von Zielkonflikten habe ich kurz vor der Demo mit dem Ornithologen Matthias Schmidt gesprochen. Bei der NGO Birdlife Österreich setzt er sich besonders für den Schutz von Groß- und Greifvögeln ein. Von ihm erhalte ich später Bilder von Tieren, die von Rotorblättern getötet wurden.

Herr Schmidt, heute ist weltweiter Klimastreik-Tag. Gehen Sie auch zur Demo?

Meine Familie ist dort, ich selbst leider nicht. Birdlife ist auch offizieller Unterstützer des Klimastreiks. Ich finde gut, dass wir da ein Zeichen setzen. Die Lebensräume der Vögel sind durch den Klimawandel bedroht. Wir finden aber auch, dass es beim Klimaschutz Sensibilität braucht.

Wir sprechen von Zielkonflikten, wenn Maßnahmen zum Schutz des Klimas negative Auswirkungen auf die Artenvielfalt haben. Welche konkreten Bedrohungen birgt die Windenergie für Vögel?

Windkraftenergie kann nur ein Teil der Lösung sein. Sie darf nicht uneingeschränkt ausgebaut werden. Bei Windkraftanlagen (WKA) gibt es drei Problemfelder: Kollisionen durch die Rotoren, die Degradierung von Lebensraum sowie die Scheuchwirkung. Dabei gibt es regional viele Unterschiede und auch nicht jeder tote Vogel hat gravierende Auswirkungen auf die Artenvielfalt.

Welche Vogelarten sind in Österreich besonders von Windparks bedroht?

Für Kleinvögel im Flachland ist es weniger gravierend. Doch fast 20 Prozent der tot aufgefunden Kaiser- und Seeadler lassen sich auf WKA zurückführen. Man muss aber auch dazu sagen, dass WKA nicht die Hauptbedrohung für Vögel darstellen. Das Insektensterben, etwa durch Pestizide in der Landwirtschaft, der generelle Landverlust durch die Bodenversiegelung, die Folgen des Klimawandels… die Liste an Bedrohungen ist lang. Die am häufigsten von Menschen verursachten Todesarten bei Greifvögeln sind zum Beispiel immer noch Abschuss und Vergiftung.

Die Österreichische Bundesregierung plant bis 2030 die Windenergieproduktion von 6,3 auf 15,3 Prozent zu erhöhen. Prozentual ist eine größere Steigerung nur bei PhotovoltaikAnlagen geplant. Kann das aus Sicht eines Artenschützers überhaupt funktionieren?

Es wird sich zeigen, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Wenn wir Ostösterreich betrachten, dann wird diese Region bereits intensiv für die Windenenergie genutzt. Dort wird nicht mehr viel möglich sein, ohne massive Auswirkungen auf den Artenschutz in Kauf zu nehmen. Die große Frage wird sein, wie es im Alpenraum weitergeht. Wir setzen uns für eine großräumige und faktenbasierte Planung ein. Leider haben wir oft erlebt, dass Betreiber unzureichende Erhebungen zum Artenschutz in Auftrag geben, die dann zu willkürlichen Ergebnissen führen. Das macht die Datenlage schwer nachvollziehbar und vergleichbar. Wir versuchen mit fachlich fundierten Leitfäden dazu beizutragen, dass sich Standards durchsetzen.

Die Energiewirtschaft fordert verkürzte Prüfungsverfahren zur Bewilligung von WKA. Außenstehenden erscheinen diese Verfahren tatsächlich sehr bürokratisch und langwierig. Können Sie sich eine Verkürzung vorstellen, bei der der Artenschutz nicht zu kurz kommt?

Eine seriöse Erhebung dauert meisten zwischen 1,5 und 2 Jahren. Die Natur lässt sich eben nicht an einem Tag erheben. Wenn ich zum Beispiel wissen will, ob in einem Gebiet der Kaiseradler brütet, kann ich die Erhebung nicht im Winter machen. Das wäre unseriös. Die Verzögerungen in Verfahren kommen aber meistens durch unzureichende oder fehlende Unterlagen in den Umweltverträglichkeitsprüfungen zustande, die dann zu Recht beeinsprucht werden. Eine Versachlichung in Form von seriösen Erhebungsstandards würde nicht nur eine bessere Bewertung zulassen, sondern aus meiner Sicht auch zu einer Beschleunigung der Verfahren führen. Grundsätzlich haben wir bei Genehmigungsverfahren Parteienstellung und erheben auch Einsprüche. Das machen wir aber nicht bei jedem Windpark, sondern nur, wenn es Konfliktpotential gibt oder wenn Methoden benutzt wurden, die keine belastbaren Aussagen zulassen.

Mir erscheint dieser Ablauf etwas fragwürdig: Firmen beauftragen vor dem Bau ihres Windparks ein Gutachten bei Technischen Büros und bezahlen diese direkt dafür?

Die Abhängigkeit der Büros von den Betreibern sehe ich als ein wesentliches Problem. Wir sollten hinterfragen, ob Firmen tatsächlich das Büro aussuchen und direkt beauftragen dürfen sollten. Kommt eine Studie zu negativen Ergebnissen, riskiert das Büro natürlich, dass es bei der nächsten Prüfung nicht mehr den Auftrag erhält. Die Behörde bzw. ein Sachverständiger muss das Gutachten dann zwar noch abnehmen und kontrollieren, eine detaillierte Prüfung ist da aber oft schwierig. Zurzeit gibt es aber keine klaren Vorgaben, wie die technischen Büros ihre Erhebung durchzuführen haben. Es hat sich gezeigt, dass viele – nicht zuletzt aus Kostengründen – mangelhafte Methoden verwenden. Wir brauchen daher Methodenstandards. Das würde auch die Verfahren vereinfachen und den Betreibern Planungssicherheit geben.

Als Laie verstehe ich angesichts dieser Mängel etwas besser, wie es zu Eskalationen rund um geplante Autobahnen und Nachdenkpausen bei Kraftwerksplänen kommen kann. Wie viele solcher Konflikte liegen in den kommenden Jahren wohl noch in der Luft? Und wie sieht es stromabwärts mit dem Windkraftausbau aus? Der Green Deal der Europäischen Kommission sollte doch auch die IngenieurInnen in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien motivieren, oder nicht? Matthias Schmidt sieht in der Windkraft jedenfalls ein »lukratives Business«, das auch Betreiber aus Westeuropa und Österreich nach (Süd-) Osteuropa lockt. »Aktuell ist die Windkraftnutzung aber vor allem in Ostösterreich und Westungarn ein Thema. Auch im bulgarischen Osten, an der Schwarzmeerküste gibt es Windkraftanlagen, ebenso wie Konflikte zwischen dem Vogelschutz und WKA-Betreibern«, so Schmidt, der sich selbst aber eher mit Österreich beschäftigt. Ich konfrontiere ihn noch mit einem Argument, das man im Kontext von Windpark-Debatten oft hört – sicherlich keine Lieblingsfrage für Vogelfans:

Herr Schmidt, was antworten Sie jemanden, der nicht versteht, dass ein Windpark wegen eines toten Vogels nicht gebaut werden darf, und damit der Energiebedarf durch Atomoder Kohlekraftwerke ausgeglichen werden muss? Ist das im Interesse des Klimaschutzes?

Das darf nicht unser Zugang bei dieser Frage sein. Wir brauchen ein Umdenken. Artenschutz ist zwar aufwändig, aber auch sehr wertvoll für uns. Vielfältigkeit ist ein Wert, der aus vielen Individuen besteht. Je mehr Individuen verschwinden, desto fragiler werden unsere Ökosysteme, desto näher kommen wir dem Kollaps. In der Summe liegt der Unterschied. Klimaschutz kann und darf nicht uneingeschränkt auf Kosten von Arten umgesetzt werden.

Nun will aber auch keiner einen Windpark direkt neben der Vorstadtsiedlung. Was also tun?

Das ist immer eine Abwägungssache. Die Planung der Windkraft unterliegt natürlich Zwängen – Abstände zu Siedlungen, Infrastruktur, Windverfügbarkeit etc. Oft überschneiden sich die daraus resultierenden Planungsgebiete mit wertvollen Naturräumen. Der Artenschutz droht hier immer öfters buchstäblich unter die Räder zu kommen. Umso wichtiger ist überregionale Zonierung. Es bringt nichts, wenn jede Gemeinde für sich versucht einen Windpark zu bauen, sondern die Politik ist gefragt, Zonen zu definieren und durchzusetzen, die den Zielen des Artenschutzes und des Energiesektors gerecht werden. In einigen Bundesländern – etwa in Niederösterreich – gibt es diese bereits. Bei deren Erstellung waren wir auch fachlich eingebunden. Dadurch werden zwar nicht alle Konflikte gelöst, aber eine faktenbasierte Zonierung reduziert allemal das Konfliktpotential. Eine weitere Möglichkeit ist auch das sogenannte »Repowering«, also die Effizienzsteigerung von bestehenden Windparks. So kann man vermeiden, dass neue Flächen verloren gehen. Unser Ziel ist es nicht, dagegen zu sein, sondern Konflikte zu minimieren.

Matthias Schmidt wirkt optimistisch. Der Ornithologe sieht sich nicht als Aktivist, sondern als »Bindeglied zwischen Forschung und Naturschutz.« Der 41-Jährige ist überzeugt, dass Fakten und methodische Standards dabei helfen, Zielkonflikte zu lösen. Schmidt hat Biologie in Wien studiert und ist eher zufällig im Urlaub auf die Faszination für Vögel gestoßen. »Ich bin spät, aber dafür schnell in die Vogelwelt gekippt«, erzählt der Wahl-Niederösterreicher. Hierzulande hätten Fans wie er »noch immer einen Exotenstatus«. Dabei ist die Vogelwelt spannend und spektakulär zugleich. Das zeigt sich etwa am Phänomen des Vogelzugs. Dank Telemetrie können aktuell Rohrweihen auf ihren Flugwegen von Österreich nach Westafrika mitverfolgt werden (Infobox). Die Leistungen von Zugvögeln begeistern Schmidt bis heute: »36 Stunden nonstop über’s Mittelmeer. Das ist faszinierend!«

Während ich mich kurz darauf von dem Protestzug durch die Straßen treiben lasse, fallen mir die Plakate einer bekannten Tierschutzorganisation ins Auge. »Tierschutz = Klimaschutz« ist darauf zu lesen. Für Menschen wie Matthias Schmidt ist der Zielkonflikt Klimaschutz vs. Naturschutz auf sachlicher Ebene lösbar. Wie viel Zeit wird uns für diese Aushandlungsprozesse bleiben, frage ich mich. Beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden, das ist klar. Mit dem gleichen Ziel vor Augen und einem geteilten Verständnis für die Wichtigkeit von Biodiversität und dem Schutz von Ökosystemen wird es hoffentlich funktionieren. Der Druck von der Straße kann dabei nicht schaden, das meint auch der Ornithologe. Jeder trommelt eben anders, aber alle trommeln für’s Klima.

 

Matthias Schmidt wurde in Deutschland geboren und wuchs in Salzburg auf. Nach seinem Studium der Biologie in Wien ist er seit 2006 im Vogelschutz aktiv. Seit 2010 ist Schmidt als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BirdLife Österreich tätig.