Der Aufstieg des Ostens

Kinga Brudzinska wurde kürzlich in einem Artikel von Die Welt zitiert, der die wirtschaftliche Transformation in Mittel- und Osteuropa (CEE) analysiert und wie diese Länder – zum Beispiel in der Digitalisierung von FinanzdienstleistungenWesteuropa überholt haben.

Lesen Sie den Artikel hier.

Sebastian Schäffer (IDM) für Phoenix Television/ HongKong

Phoenix Television, ein Fernsehsender mit Hauptsitz in Hong Kong, sprach mit Sebastian Schäffer (IDM) über die gegenseitige Ausweisung von russischen bzw. deutsche. Diplomat*innen sowie die Einflussnahme des Kremls auf die Zivilgesellschaft in Deutschland. Ausschnitte des Interviews wurden in zwei Beiträgen veröffentlicht, die Passagen sind auf Deutsch abrufbar: 

Russland-Spezialist: Russland hat versucht, die deutsche Unterstützung für die Ukraine zu beeinflussen

Russland weist Diplomaten als Vergeltung für die sich verschlechternden Grenzbeziehungen Deutschlands aus

Warum suchen wir den Rausch, Herr Kastenbutt?

URKHARD KASTENBUTT leitet das Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung in Osnabrück. Im IDM-Interview mit DANIELA APAYDIN spricht er über die Veränderungen im Umgang mit Rauschmitteln und das Spannungsfeld zwischen Kultur, Kontrolle und Konsum von Drogen.

Wir führen dieses Interview mitten im Fasching, einer traditionell rauschhaften Zeit. Wie stehen Sie als Sozial- und Suchtforscher zu dieser Tradition?

Ich halte Feste, die sich vom profanen Alltag abgrenzen, für wichtig. Sie vertreten eine Körperlichkeit, die gerade in unserer virtuellen Welt an Bedeutung verliert und auf digitale Weise nicht hergestellt werden kann. Außerdem setzen sie Formen sozialer Kontrolle für einen gewissen Zeitraum außer Kraft. Die Soziologie spricht von einer rauschhaften Vergemeinschaftung. Diese Ausnahmezustände gefährden nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern bestätigen im Endeffekt nur ihre Notwendigkeit.

Viele nehmen solche Feste aber auch zum Anlass, sich grenzenlos zu betrinken.

In den letzten Jahren gibt es in einigen europäischen Ländern etliche Bemühungen, wieder zu den ursprünglichen Karnevals- oder Fastnachtsfeiern zurückzukehren – weg vom übermäßigen Alkoholkonsum und hin zu mehr Familienfreundlichkeit. Dabei ist gegen einen leichten Rausch nichts zu sagen. Vielmehr geht es um die selbstkritische Wahrnehmung des persönlichen Trinkverhaltens, also der Frage, ob ich solche Feste nicht lieber bewusst erleben will.

Sehen Sie im Rausch ein menschliches Grundbedürfnis?

Ja, der Konsum von psychoaktiven Substanzen und das Erlebnis des Rausches lassen sich in vielen Ländern der Welt als kulturelle Phänomene beobachten. Schon bei den Griech*innen und Römer*innen spielte der Konsum von Wein eine bedeutende Rolle, um im Rausch den Gottheiten näher zu sein. Von den eurasischen Reitervölkern, den Skythen, ist bekannt, dass sie sich durch das Erhitzen von Hanf in ihren Dampfbädern berauschten. Der Rausch spielte also schon lange eine bedeutende Rolle, um den Anforderungen und Belastungen des Alltags zeitweise zu entfliehen und in eine andere Erlebniswelt einzutauchen.

Gehen Gesellschaften – global gesehen – unterschiedlich mit den Erfahrungen von Ekstase um? Welche Rolle spielt etwa das Christentum in unserem Umgang mit Alkohol? Immerhin hat schon Jesus Wasser zu Wein verwandelt.

Der Alkohol war bereits lange vor Christus ein Symbol zahlreicher Mythologien und Religionen. Vor ca. 8000 Jahren wurde in Mesopotamien, auf dem heutigen Gebiet um den Irak und Syrien, Wein angebaut. So gesehen ist der Alkohol nicht allein Folge des christlichen Erbes. Er ist aber seit Jahrhunderten die bevorzugte
Droge im sogenannten christlichen Abendland. Über die kulturellen und sozialen Kontexte von Rausch und Ekstase liegen leider nicht viele Studien vor. Die meisten orientieren sich an medizinischen Aspekten. Es gibt in der Suchtforschung also reichlich Nachholbedarf, vor allem was die soziologischen Aspekte in Ostmittel- und Südosteuropa angeht.

Kann und muss der Staat den Rausch kontrollieren?

Das Bedürfnis nach rauschhaftem Erleben lässt sich nicht verbieten. Versuche, die Menschen daran zu hindern, sind vielfach gescheitert. Denken wir etwa an die Alkohol-Prohibition zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA. Daraufhin produzierten und verkauften die Menschen Alkohol illegal, was mit etlichen sozialen und gesundheitlichen Problemen einherging. Staatliche Kontrollen können also äußerst kontraproduktiv sein. Zwar gibt es heute gesetzliche Normen, was den Konsum bestimmter Drogen anbelangt, nur greift der Staat nicht direkt in die Freiheitsrechte ein.

Ist das so? Immerhin wird der Umgang mit gewissen Drogen mit Freiheitsstrafen geahndet, während wiederum andere wie Alkohol erlaubt sind.

Der Konsum gewisser Drogen allein ist in vielen europäischen Ländern rein rechtlich nicht strafbar. Dagegen sind aber alle Tätigkeiten rund um den Gebrauch solcher Substanzen strafbar, wozu der Besitz, der Anbau, die Herstellung, der Erwerb und der Handel gehören.

Was kann ich mir unter Rauschkompetenz vorstellen?

Moderne Gesellschaften haben heute eine lockere Einstellung gegenüber dem Rausch, etwa in Bezug auf Alkohol oder Cannabis. Das war aber nicht immer so. Während die Menschen im Mittelalter den Rausch für einen selbstverständlichen Bewusstseinszustand hielten, hat sich das im Übergang zur Neuzeit verändert. Die Menschen entwickelten Schamgefühle und Moralvorstellungen gegenüber ihrem Trinkverhalten. Der Zwang zur Kontrolle von Affekten stand dabei im Mittelpunkt des Geschehens. Auch heute steht die Selbstkontrolle im Vordergrund, aber eben in einem anderen Zusammenhang, der weniger auf Moral, sondern auf einem reflektierten Umgang mit Substanzen beruht.

Das heißt, die Verantwortung für einen gemäßigten Umgang mit Rauschmitteln liegt beim Individuum?

Genau, jedoch verfügen nicht alle Menschen über solche Kompetenzen. Dies wird deutlich, wenn man sich mit dem Missbrauch von Alkohol und seinen Risiken beschäftigt. So betreibt ein relativ großer Teil der Bevölkerung innerhalb der EU einen gesundheitsriskanten Alkoholkonsum, auch wenn ein solches Verhalten noch nicht auf eine Suchtmittelabhängigkeit hindeutet. In Deutschland konsumieren rund 7,9 Millionen Menschen Alkohol in gesundheitsriskanter Form. 1,6 Millionen Deutsche gelten als alkoholabhängig und sind behandlungsbedürftig.

Sie sind schon seit den 1980er Jahren in der Bildungsarbeit tätig. Ändert sich denn der Umgang mit Drogen von Generation zu Generation?

Jugendliche beginnen meistens mit dem sogenannten Probierkonsum von Tabak und Alkohol, der mit Neugier und Experimentierdrang verbunden ist. Die meisten hören aber auch bald wieder auf oder konsumieren kontrolliert. Besorgniserregender ist das relativ junge Phänomen des »Koma-Saufens«, da solch ein Verhalten zu lebensbedrohlichen Alkoholvergiftungen führen kann. Alkoholkonsum findet auch immer jünger statt. So macht bereits die Hälfte der 12-Jährigen in Deutschland erste Erfahrungen mit Alkohol. Auch der Mehrfachkonsum von Drogen ist ein wachsendes Problem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Manchen reicht der Konsum einer Substanz nicht mehr aus, um den gewünschten Kick zu erzeugen. Der parallele und zeitnahe Gebrauch unterschiedlicher psychoaktiver Substanzen ist äußerst gesundheitsschädlich.

Haben sich auch die Auslöser für den Drogenkonsum verändert?

Noch vor gut vierzig Jahren spielten autoritäre Formen der Erziehung sowie Minderwertigkeitsgefühle eine große Rolle für Suchtentwicklung. Durch den Verlust traditioneller Normen und Werte fehlt heute dagegen vielen Jüngeren die Orientierung. Ist die ältere Generation der Drogenkonsument*innen in einem zu engen »seelischen Korsett« aufgewachsen, sind heutige Jugendliche schon früh auf sich allein gestellt. Bei der jüngeren Generation der Suchtkranken geht es vor allem um Probleme der sozialen Integration und Bindung. Hinzu kommen Belastungen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in den sozialen Netzwerken, was bei vielen Betroffenen mit Zukunftsängsten einhergeht. Zusammen schürt das Frustrationen und Gefühle der Hilflosigkeit, das ist vollkommen anders als in früheren Generationen. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl bezeichnete ein solches Lebensgefühl als »existentielles Vakuum«. Und gerade in der jungen Generation der Suchtkranken haben Sinnlosigkeits- und Entmutigungsgefühle zugenommen, wobei sich viele von ihnen nach einer authentischen und intakten Gemeinschaft sehnen, die sie vielfach in ihrem sozialen Umfeld nicht gefunden haben.

Wo sollte die Suchtprävention künftig stärker ansetzen?

Jugendliche sollten dabei unterstützt werden, ihre Identität stabil und positiv entwickeln zu können. Dabei geht es etwa um die Förderung der individuellen Konfliktfähigkeit, damit junge Menschen im Umgang mit Drogen kritischer und damit widerstandsfähiger werden. Eine solche Prävention sollte nach Möglichkeit schon im Elternhaus beginnen und sich in der Schule fortsetzen, wobei auch Jugendkultureinrichtungen in die Prävention miteinzubeziehen sind. Auf diesem Gebiet muss noch viel mehr geschehen.

Wie stehen Sie angesichts dieser Herausforderungen zur Entkriminalisierung von Cannabis?

Als Suchtforscher begrüße ich es, dass der geringfügige Besitz von Cannabis in Deutschland nicht mehr unter Strafe gestellt werden soll. Man sollte die Begriffe Entkriminalisierung und Legalisierung aber nicht gleichsetzen. Auch wenn Cannabis entkriminalisiert wird, sind die Produktion und der Vertrieb von Cannabis immer noch illegal. Auch stellen der Besitz und der Konsum der Droge in Deutschland weiterhin eine Ordnungswidrigkeit dar. Es kann also zu Geldbußen kommen. Bei einer Legalisierung würde es legale Optionen geben, Cannabis käuflich zu erwerben, es zu besitzen und zu konsumieren. Das muss aber noch gesetzlich geregelt werden.

 

Dr. phil. Burkhard Kastenbutt ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftler und leitet das Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung in Osnabrück. Zusätzlich zu seiner langjährigen Bildungsarbeit in und mit Suchtselbsthilfegruppen ist er als Dozent am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück tätig.

Daniela Apaydin ist Historikerin und Chefredakteurin des Themenhefts Info Europa des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).

Danubius Awards 2022

Danubius Award 2022 to the Bulgarian scientist Prof. Dr. Diana Mishkova, Danubius Mid-Career Award to Ukrainian scientist Assoc. Prof. Dr. Tamara Martsenyuk and Danubius Young Scientist Awards to 13 promising researchers from the Danube region. 

The “Danubius Award” 2022 goes to Bulgarian Prof. Dr. Diana Mishkova, History Professor and Director of the Centre for Advanced Study (CAS) in Sofia, Bulgaria. With her work focusing on modern and contemporary history of Eastern Europe, the modernization of South-Eastern Europe, European societies, and European peripheries as well as national identities, she has contributed profoundly to research on the Balkans. She is o the funding director of CAS Sofia, that is supported by numerous international sponsors, such as the Wissenschaftkolleg Berlin (Institute for Advanced Study Berlin). Prof. Dr. Mishkova has already received several awards for her scientific work and is involved in different international projects – currently in the Horizon 2020 project „PREVEX – Preventing Violent Extremism in the Balkans“.

Ukrainian scientist Assoc. Prof. Dr. Tamara Martsenyuk has been awarded the “Danubius Mid-Career Award” 2022. She is an Associate Professor at the National University of Kyiv-Mohyla Academy. In her studies, she focuses on gender research, social inequality issues, gender policies, social movements, and empowerment. In addition to numerous stays abroad and the participation in international research projects, she also brings her expertise to national policy forums and NGOs. Her research is currently focusing on the topic “Women’s involvement in Russia’s War against Ukraine”. 

 
In addition, 13 young scientists from the Danube Region will be awarded with the Danubius Young Scientist Award 2022 for their scientific work.

By presenting these Awards, the Austrian Ministry for Education, Science and Research (BMBWF) is contributing to the implementation of the EU Strategy for the Danube Region (EUSDR) adopted by the European Council in 2011. Through the awarding of outstanding scientific achievements, the Danube region is made visible as a research area and the perception of its multidisciplinary challenges and potentials is strengthened.

„The Danube Region provides many opportunities for cross-border and regional cooperation among universities as well as research organizations. And there are, indeed, plenty of common challenges along the Danube and beyond which we need to jointly address and develop solutions for Federal Minister for Education, Science and Research Prof. Martin Polaschek pointed out on the occasion of the award ceremony on 10 November 2022 at the University of Maribor.

“The role of scientists and researchers has changed profoundly in the last decade. On the one hand, scientists and researchers are in a high demand to deliver fast results and provide evidence for critical policy decisions, and they have become indispensable in explaining and communicating the current knowledge available. On the other hand, we see a worrying rise in skepticism towards science and research as well as towards democracy in general, which creates a wide range of problems for and in our societies. We need to work together to counter this skepticism, and I am confident that all of you present and especially the awardees of today can and will contribute with their work towards demonstrating and communicating the relevance of science and research„, Polaschek continued.

The award ceremony in Maribor took place in the presence of Barbara Weitgruber, Head of the Department from the BMBWF, and Friedrich Faulhammer, Chairman of the Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM).

In her introduction, Barbara Weitgruber highlighted the solidarity with Ukraine as partner country of the EUSDR: “We will continue our support to the Ukrainian researchers, who have come or aim of coming in the EU, as well as to those remained in Ukraine. In addition to that, we hope for an early beginning of the reconstructions, and we are getting ready for appropriate support measures”. 

Friedrich Faulhammer added: “I am really pleased that once again we are working together with the Ministry for Education, Science and Research to honor scientists, who are significantly contributing to the development of knowledge and understanding within the Danube region in their various fields of research. This year, I am particularly pleased that we can also highlight the scientific work of Ukrainian female researchers, as they are currently forced to work under the conditions caused by the unjustified Russian attack on their country”.

The “Danubius Award” was established in 2011 to honor researchers who have outstandingly dealt with the Danube Region in their academic or artistic work. The prize is granted every year on a rotating basis for achievements in the humanities, cultural and social sciences (2022) or in life sciences and is endowed with € 5,000.

The “Danubius Mid-Career Award“ is endowed with € 2,200 and has been awarded since 2017 to researchers who are from 5 to a maximum of 15 years after their last formal scientific degree or have equivalent scientific experience. The prize winners were selected by an independent jury of experts chaired by Univ. Prof. Dr. Stefan M. Newerkla (University of Vienna).

Since 2014, special young talent awards, the „Danubius Young Scientist Awards“ have also been awarded. The prize, which is open to all disciplines, highlights the scientific work and talent of young researchers and increases the visibility of the excellence of the research community in the Danube Region. In this way, the prizes also contribute to the fact that young scientists deal with the river and the region in a variety of ways. The young talent prizes are endowed with € 1.350, per award winner. The selection was made by an international jury of experts, whereby the candidates for the award were nominated by their respective scientific institutions. 

Austria  Daniela Apaydin  
Bosnia and Herzegovina  Marko Djukanović  
Croatia  Jelena Kranjec Orlović  
Czech Republic  Adela Grimes  
Germany  Jan Schmitt  
Hungary  Blanka Bartos  
Moldova  Nicolae Arnaut  
Montenegro  Miloš Brajović  
Romania  Mihaela Cudalbeanu 
Serbia  Zorana Miletić  
Slovakia  Tibor Zsigmond  
Slovenia  Žane Temova Rakuša  
Ukraine  Illia Diahovchenko  

Watch the Award ceremony below

Cross-Border Talks: Sebastian Schäffer about the consequences of the Russian aggression against Ukraine for the EU

Cross-border Talks‘ discussion with Sebastian Schäffer about the changes, which war in Ukraine has already brought to the EU and to its Eastern part.

Discussed topics:

– how is the Poland-Ukraine and Russia-Turkey alignment seen from the position of somebody in the German-speaking world;

– what is the role, which Bulgaria and Romania could play in the new security arrangement in Southeastern Europe; is their position out of Schengen a sign of certain unclarity regarding their geopolitical position;

– what role could the Danube Strategy play for the intensification of the Bulgarian-Romanian relations;

– how should the Turkish ascension as a mediator between „the West“ and „the East“ should be seen and what does it mean for the countries of Southeastern Europe;

– what are the result of German chancellor Olaf Scholz’s visit to China;

– what is path forward for the EU in a world in which Russia is no longer a key economic partner and inderdependence with China might not be advisable;

– what has been changing with regard to Austria’s role in Southeastern Europe after the start of the war in Ukraine.

You can watch the whole interview here: https://www.youtube.com/watch?v=PNc0W98lf_A

Herkulesaufgabe für die Demokratie

Wird die repräsentative Demokratie als beste Regierungsform abgelöst? Über Machtkämpfe, Vertrauensverlust und den Trend zu lokalen Antworten auf globale Probleme schreibt DANIEL MARTÍNEK in seinem Kommentar.

Die repräsentativen Demokratien Europas befinden sich in der Krise. Das zeigt sich etwa in der schwindenden Bedeutung politischer Großparteien, in niedriger Wahlbeteiligung oder in einem allgemeinen Misstrauen gegenüber PolitikerInnen und Institutionen. Die überholte und teils autoritäre Politik einiger Regierungsparteien in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas trägt zu diesem Trend bei. Sie ist aber auch Grund, warum sich lokale Initiativen, Bewegungen und Bündnisse als Gegenmacht zu den nationalen Regierungen formieren.

Der Charakter dieses lokalen Aufbruchs unterscheidet sich je nach den Umständen, in denen er sich entwickelt und reicht weit über die Städte hinaus bis in abgelegene ländliche Gebiete. Die Spannbreite ist groß und umfasst neben BürgerInneninitiativen, ökologischen Gruppen oder Parteien, die aus Protestbewegungen hervorgehen, auch BürgermeisterInnen-Allianzen und kommunal verwaltete Plattformen. Sie alle entstehen, um die lokale Mitbestimmung zu stärken und bei jenen Fragen mitreden zu können, auf die die Regierung ihrer Meinung nach unzureichende oder gar keine Antworten liefert. Basisdemokratische Kräfte wie diese verleihen der uralten Idee der Demokratie von unten neuen Auftrieb.

Politisches Establishment herausfordern

Es existiert keine Übersicht aller bestehenden gemeinschaftsbasierten Initiativen in der Region Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Eine solche zu schaffen wäre auch schwierig, da sich diese Initiativen in Umfang, Inhalt, Grad der Partizipation und Bedeutung unterscheiden. Strukturell können wir zwischen zwei Formen von lokalen Veränderungskräften unterscheiden: eine institutionalisierte und eine informelle. In der ersten kommen Städte, Gemeinden und kommunale Einrichtungen zu Bündnissen zusammen oder schaffen transnationale Plattformen. Dazu zählen etwa Netzwerke wie Fearless Cities, URBACT, Eurotowns oder Pact of Free Cities, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinaus austauschen und miteinander kooperieren.

Zur zweiten Form gehören von der Zivilgesellschaft initiierte, eher spontan und anlassbezogene Bottom-up-Projekte wie BürgerInneninitiativen, die den lokalen Status quo herausfordern und Veränderungen bewirken. Zumeist stehen sie dadurch im Widerspruch zum herrschenden politischen Establishment. Werden Mitglieder lokaler Initiativen in die Stadt- und Gemeinderäte gewählt, vertreten sie dort die Interessen der Protestierenden. So werden zivilgesellschaftliche Kräfte institutionalisiert oder durchdringen bestehende Strukturen, was auch zu Konflikten führen kann. PolitikerInnen, die ihre Anfänge in Bewegungen wie Miasto jest Nasze in Warschau, Zagreb je NAŠ! in der kroatischen Hauptstadt oder Ne da(vi)mo Beograd in Belgrad machten, sind nur einige Beispiele für aktivistisches Engagement, das auch parteipolitische Wege einschlägt. Angesichts der überall wachsenden politischen, ökologischen und sozialen Probleme geht dieses Phänomen auch über Hauptstädte und urbane Räume hinaus. Gerade Umweltbewegungen mobilisieren die lokale Landbevölkerung gegen Naturzerstörungen.

Chancen und Barrieren des lokalen Aufbruchs

Solche Aktivitäten öffnen den Blick für ein neues Verständnis von Machtverteilung und Demokratie, die von einer repräsentativen in eine partizipative Herrschaftsform umgewandelt wird. Viele der genannten Initiativen teilen gemeinsame Ziele. Sie alle befassen sich mit brennenden Themen unserer Zeit und ihren Auswirkungen auf das lokale (teils auch globale) Umfeld: die Klimakrise, ausreichender und angemessener Wohnraum, soziale Ungleichheit, verantwortungsvolle Regierungsführung. Dabei fordern sie die Einhaltung von Menschenrechten, individuelle Freiheiten, Transparenz, Inklusion und Rechtsstaatlichkeit ein. Oft streben sie eine soziale, grüne und diverse Lokalpolitik an.

Mit Forderungen wie diesen und dem Ziel, dem politischen Klientelismus und Tribalismus etwas entgegenzustellen, stoßen lokale Initiativen auf den Widerstand bestehender Strukturen und Hierarchien. Ihr Anspruch, bei Entscheidungen gehört zu werden, fordert zentralistische Nationalstaaten heraus. Daher werden solche Projekte in der Regel nicht von den Regierungen unterstützt, ganz im Gegenteil, sie versuchen, diese Aktivitäten zu unterbinden.

Zukunft der Demokratie

Trotz allen politischen Drucks demonstrieren lokale Bewegungen ihre Vitalität, indem sie mit sehr begrenzten Ressourcen und unter ungünstigen Umständen für ihre Ziele eintreten. Gleichzeitig rütteln sie an bestehenden Machtverhältnissen. Eine der größten Herausforderungen besteht jedoch weiterhin darin, die Bevölkerung zu überzeugen und zu motivieren, diese neue Art der Machtverteilung zu unterstützen. Dieser Machttransfer bildet jedoch eine Herkulesaufgabe für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas, wo die Zivilgesellschaften schwach ausgeprägt und politisch gespalten sind.

Politik zu den Menschen zu bringen ist daher eine wichtige Aufgabe für lokale Initiativen. Sie müssen die Bevölkerung überzeugen, dass lokales Engagement bedeutet, ihre eigene Zukunft zu gestalten. So kann die Krise der repräsentativen Demokratie langfristig zu partizipativen Entscheidungsprozessen führen und lokale Beteiligungsprojekte fördern. Dafür ist eine engere Zusammenarbeit und ein Austausch zwischen Bottom-up-Projekten und lokalen Institutionen und Behörden notwendig. Zugleich müssen sie Allianzen über die Grenzen des Lokalen hinaus bilden, um Antworten auf globale Probleme zu finden.

 

Autor: Daniel Martinek

Route neu berechnen

Was tun, wenn eine Wanderausstellung vor geschlossenen Grenzen steht? Mit den Absagen von physischen Events wuchs das Projekt Kunst am Strom über sich und die Grenzen der analogen Welt hinaus. Ein Bericht von MÁRTON MÉHES.

Alles hat so gut angefangen: »Das internationale Kunstprojekt ‚Kunst am Strom‘ führt Kunstpositionen, KünstlerInnen und KuratorInnen aus dem Donauraum zusammen (…). Ziel des Projekts ist der Dialog von verschiedenen Kunstpositionen aus den Donauländern, die in einer Wanderausstellung (…) in acht Städten der Region gezeigt werden. Darüber hinaus werden sich KünstlerInnen und KuratorInnen aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien im Rahmen von Symposien begegnen, sich austauschen und Netzwerke bilden.« Soweit ein Zitat aus der Projektbeschreibung, verfasst Mitte 2019. Im Nachhinein merkt man dem Text ein gewisses Selbstbewusstsein an: Wir planen etwas und setzen es dann um – was soll da schon schiefgehen? Nur wenige Monate später, im Mai 2020, schlugen wir im Einführungstext zu unserem Ausstellungskatalog bereits ganz neue Töne an: »Angesichts der aktuellen Klimakrise und der Fragen der post-epidemischen ‚Weltordnung‘ ist der Donauraum mit der Herausforderung konfrontiert, Vergangenheitsbewältigung und die Entwicklung von Zukunftskonzepten gleichzeitig voranzutreiben. Die historischen Erfahrungen aus dieser Region könnten dabei auch hilfreich werden. Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen.« Unser Selbstbewusstsein ist verpufft. An seine Stelle sind offene Fragen, Herausforderungen und eine ungewisse Zukunft getreten. Die Wanderausstellung Kunst am Strom, die auf viele Treffen, Grenzüberschreitungen, Eröffnungsevents und den persönlichen Austausch setzte, war in der Pandemie-Realität angekommen.

Unerwartete Blickwinkel

Von nun an kamen sich ProjektleiterInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen wie ein Navigationsgerät vor, das die Route ständig neu berechnen muss, und dennoch nie ans Ziel kommt. Von den ursprünglich geplanten drei Ausstellungen konnten 2020 zwar immerhin noch zwei (im Museum Ulm und auf der Schallaburg) veranstaltet werden, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. In Ulm fand sie ohne den großangelegten Kontext des Internationalen Donaufests statt, und auf der Schallaburg musste sie wegen des erneuten Lockdowns Wochen früher schließen. Ursprünglich hätte die Schau 2021 an weiteren fünf Stationen Halt gemacht – möglich war lediglich eine Veranstaltung in Košice im Herbst 2021, unter Einhaltung strengster Hygiene- und Sicherheitsregeln. Mitte des Jahres 2021 war allen Beteiligten klar, dass das Projekt verlängert werden muss, was dann von den FördergeberInnen auch genehmigt wurde. Spätestens im Sommer hätten sich also alle zurücklehnen können, nach dem Motto »Wir sehen uns nach der Krise…« Doch bald stellte sich heraus, dass der Satz aus dem Katalog von allen Beteiligten ernst gemeint war: Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen. Im April 2021 fand ein Online-Symposium mit den KuratorInnen statt, um gemeinsam auf innovative, aber rasch und unkompliziert umsetzbare Austauschformen im virtuellen Raum zu setzen. Das Meeting funktionierte gleichzeitig als Ventil: KuratorInnen schilderten die Lage in ihren Städten und die teils dramatische Situation der jeweiligen Kunstszene. Im Mai folgte dann Studio Talks. Die KünstlerInnen wurden im Vorfeld gebeten, ihre Arbeit, ihre Ateliers, ihre Stadt und ihr Lebensumfeld in kurzen Video-Selbstportraits festzuhalten. Diese Videos wurden dann im Laufe der Veranstaltung gezeigt und von den teilnehmenden KünstlerInnen live kommentiert. Aus diesen Videos ist ein einzigartiges Panorama künstlerischen Schaffens im Donauraum entstanden.

Unzertrennliche Welten

Durch die gewonnene Zeit hat die Projektleitung einen Audio-Guide zur Ausstellung produzieren lassen. Auch die Facebook-Seite wurde zu einer wichtigen Präsentationsplattform weiterentwickelt. Die teilnehmenden KünstlerInnen stellten sich mit einem kurzen Werdegang sowie dem Link zu ihren Studio Talks-Videos vor. Ohne diese verstärkte Online-Kommunikation hätte das Projekt nie ein so breites Publikum erreicht. Die Studio Talks und Online-Kampagnen haben unsere physische Ausstellung nicht ersetzt. KünstlerInnen und Publikum freuen sich mehr denn je auf die Veranstaltungen vor Ort. Kunst am Strom ist durch die Pandemie vielschichtiger, informativer und spannender geworden. Eine Entscheidung zwischen »nur analog« oder »nur digital« kann es nicht mehr geben: Beide Welten sind endgültig unzertrennlich geworden und ergeben nur noch gemeinsam ein ganzes Bild.

Für das von Dr. Swantje Volkmann (DZM Ulm) und Dr. Márton Méhes geleitete Projekt Kunst am Strom wählten die KuratorInnen KünstlerInnen aus Ländern und Städten entlang der Donau aus, die zwei Generationen repräsentieren. Das Projekt wird vom Museum Ulm getragen und von mehreren Kooperationspartnern mitfinanziert.

Termine 2022:
27. April–11. Mai: Zagreb
11.–24. Juni: Timișoara
8.–21. August: Novi Sad
12. Oktober–2. November: Sofia

 

Dr. Márton Méhes (*1974) ist promovierter Germanist, ehem. Direktor des Collegium Hungaricum Wien und arbeitet heute als Lehrbeauftragter der Andrássy Universität Budapest sowie als internationaler Kulturmanager in Wien. Seine Schwerpunkte sind Kulturdiplomatie, europäische Kulturhauptstädte und Kooperationsprojekte im Donauraum.