Gefahrenzone Himmel: Vögel vor Stromschlägen bewahren

Jährlich werden tausende Vögel durch Stromschläge oder Kollisionen mit oberirdischen Stromleitungen getötet oder verletzt. Mit länderübergreifender Anstrengung soll der Himmel über der Donau für Vögel sicherer werden. Wie das geht, zeigen Marek GÁLIS und Eva HORKOVÁ in ihrem Gastbeitrag für Info Europa.

Die Donau, der so genannte »europäische Amazonas«, ist einer der wichtigsten Zugkorridore, Zwischenstopps, Schlaf- und Überwinterungsplätze für hunderte Vogelarten in Europa. Mit ihren Uferzonen und Flusslebensräumen bildet die Donau ein ökologisches Netz, das oft auch als Rückgrat für biologische Korridore fungiert. Jedes Jahr folgen Millionen Vögel auf ihrer Odyssee von und zu weit entfernten Zuggebieten dem Strom. Allein die Untere Donau und das Donaudelta beherbergen rund 360 Vogelarten, etwa den seltenen Krauskopfpelikan sowie 90 Prozent der Weltpopulation der Rothalsgans. Viele dieser Arten haben in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Rückgang erlebt. Durch Stromschläge und Kollisionen sterben in diesem Gebiet jedes Jahr 20 Prozent der sich fortpflanzenden Populationen von Kaiseradler, Sakerfalken und Krauskopfpelikanen. Zahlreiche Projekte des EU-geförderten LIFE-Programms widmeten sich bisher der Wiederherstellung von Wasserlebensräumen. Diese Maßnahmen haben zur Folge, dass der Vogelzug in diese geschützten Rückzugsgebiete zunimmt. Daher ist der Schutz gefährdeter Arten vor Kollisionen und Stromschlägen enorm wichtig, insbesondere um damit andere Bedrohungen, etwa durch die Folgen des Klimawandels, zu kompensieren.

Leitungen und Masten als Gefahrenquellen

Projektpartner aus sieben von zehn Donauländern, darunter Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien, sind Teil des LIFE Danube Free Sky-Projekts, das sich darauf konzentriert, die Gefahren durch Stromleitungen zu lindern. Vögel sind vor allem in der Nähe von Gewässern und deren Umgebung in erheblichem Maße von Stromschlägen oder Kollisionen mit Stromleitungen bedroht. Das fand ein vorhergehendes LIFE-Projekt, das in der Slowakei zwischen 2014 und 2019 durchgeführt wurde, heraus. Infolgedessen konzentriert sich das aktuelle Projekt auf 23 sogenannte Besondere Schutzgebiete (BSG) sowie auf neun signifikante Gebiete für Vögel, Important Bird Areas (IBA). Der Aktionsradius ist enorm: Denn entlang der gewählten 2000 Kilometer befinden sich acht verschiedene Arten oberirdischer Stromleitungen, die allesamt eine potenzielle Gefahr für Vögel darstellen. Ein wesentliches Ziel besteht darin, direkte und indirekte Vogelsterblichkeit durch Stromschläge und Kollisionen mit den Stromleitungen innerhalb des Projektgebiets zu verhindern bzw. zu verringern. Damit trägt das Projekt dazu bei, die Biodiversitätsstrategie der EU umzusetzen, und dem Verlust der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen entlang der Donau entgegenzuwirken. Indem sichere Zugrouten und Lebensräume geschaffen werden, können sich die Populationen von 12 Zielarten* erholen und anwachsen.

Betroffene Arten

Zu einer der häufigsten Gefahren zählen Zusammenstöße mit Hochspannungsleitungen. Viele Vögel können die Leitungen nicht rechtzeitig erkennen. Das geschieht vor allem in offenen Gebieten, in denen Stromleitungen wichtige Futter-, Nahrungs- und Nistplätze kreuzen. Vogelverluste aufgrund von Kollisionen mit oberirdischen Stromleitungen können an Verteilungs- oder Übertragungsnetzen auftreten. Am stärksten gefährdet sind große, schwere Vogelarten mit geringer Manövrierfähigkeit, das heißt solche mit hoher Flügelbelastung und geringer Streckung, wie beispielsweise Trappen, Pelikane, Wasservögel, Kraniche, Störche und Schneehühner. Das Risiko von Zusammenstößen ist nachts, in der Dämmerung und bei schlechten Sichtverhältnissen generell  höher. Zusammenstöße mit hoher Geschwindigkeit haben oft tödliche Folgen für die Vögel. Neben Kollisionen gehören auch Stromschläge zu den größten Gefahren. Sie treten meist dann auf, wenn Vögel auf dem Strommast landen und gleichzeitig mit einem Draht in Berührung kommen oder wenn sie die beiden Leiter gleichzeitig berühren. Das höchste Risiko besteht bei Mittelspannungsleitungen, die für viele Vögel in offenen ländlichen Gebieten ohne Baumbewuchs sehr attraktive Sitzstangen darstellen. Die höchste Sterblichkeitsrate durch Stromschläge verzeichnen mittelgroße und große Vögel, insbesondere Adler, Falken, Geier, Milane, Falken, Eulen, Störche und Rabenvögel. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit höher, mit ungeschützten Elementen der Mastkonstruktion in Kontakt zu kommen.

Wie geholfen wird

Um so effektiv wie möglich zu helfen und die Ressourcen so effizient wie möglich einzusetzen, müssen die Maßnahmen im Rahmen des genannten LIFE-Projekts an jenen Orten ergriffen werden, die die größten Risiken für Vögel bergen. Dazu muss durch koordinierte Feldforschung der Grad der Gefährdung von Vögeln ermittelt und bewertet werden. Insgesamt werden im Rahmen des Monitorings mehr als 1150 Kilometer Stromleitungen und über 10.000 potenziell gefährliche Strommasten untersucht. Feld-AssistentInnen sammeln in den beteiligten Ländern die entsprechenden Daten. Danach kommen die am Projekt beteiligten Energieversorgungsunternehmen ins Spiel: Sie werden gemeinsam auf 245 Kilometer vorrangiger Leitungen Warnvorrichtungen installieren, um Kollisionen zu verhindern. Darüber hinaus werden mindestens 3250 Masten isoliert, um Stromschläge zu vermeiden. In Österreich isolieren die Projektpartner in Zusammenarbeit mit der ÖBB-Infrastruktur AG hunderte der gefährlichsten Bahnstrommasten in der Nähe der Donau. In Rumänien, Serbien und der Slowakei werden Jungtiere (Sakerfalken, Kaiseradler und Krauskopfpelikane) mit Sendern ausgestattet, um gefährliche Masten in ihrem Heimatgebiet und ihren bevorzugten Lebensräumen zu identifizieren. In der Slowakei werden zehn Hektar Land von Ackerland wieder zurück in Weiden verwandelt. So wird der Naturwert des Gebietes erhöht, wovon verschiedenste Vogelarten profitieren. Zudem unterstützt das Projektteam die Brutmöglichkeiten für Sakerfalken, Blauracken und Rotfußfalken, indem es in Bulgarien, Rumänien, Serbien und in der Slowakei insgesamt 370 Nistkästen anbringt.

Transnationale Zusammenarbeit unerlässlich

Um die Vögel auf ihren Zugrouten zu schützen, müssen die Stromleitungen auf den gefährlichsten Abschnitten entschärft werden, und zwar über Ländergrenzen hinweg. Im Zuge des Projekts DANUBEparksCONNECTED wurde daher eine Plattform für die transnationale Zusammenarbeit geschaffen. Sie bildet die Grundlage für die LIFE Danube Free Sky-Projektpartnerschaft, an der acht Energieunternehmen, drei Nationalparks, drei Vogelschutzorganisationen und ein Eisenbahnunternehmen beteiligt sind. Obwohl das Projekt während der Pandemie begann, funktioniert die Zusammenarbeit aller beteiligten Projektpartner sehr gut. Die meisten der Koordinierungstreffen finden immer noch online statt, doch die Hoffnung ist groß, dass persönliche Treffen bald möglich sein werden.

Projektwebseite: danubefreesky.eu
Facebook/Instagram: danubefreesky

Natura 2000 ist ein Netz von zentralen Fortpflanzungs- und Ruhestätten für seltene und bedrohte Arten und einige seltene natürliche Lebensraumtypen, die geschützt sind. Es erstreckt sich über alle 27 EU-Länder, sowohl an Land als auch im Meer. Ziel des Netzes ist es, das langfristige Überleben der wertvollsten und am stärksten bedrohten Arten und Lebensräume Europas zu sichern, die sowohl in der Vogelschutzrichtlinie als auch in der Habitatrichtlinie aufgeführt sind. 23 besondere Schutzgebiete, die an dem Projekt beteiligt sind, sind Teil des Natura-2000-Netzes.

 

Dr. Marek Gális ist Wissenschaftlicher Koordinator der Projekte LIFE Danube Free Sky und LIFE Energy. Er studierte Ökologie und Umweltstudien an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Philosoph KonstantinUniversität in Nitra, Slowakei. Nach seiner Promotion im Jahr 2014 begann er bei der Nichtregierungsorganisation Raptor Protection of Slovakia. Er hat mehrere Artikel zum Thema Vögel vs. Stromleitungen veröffentlicht und ist aktiv am Prozess der Risikobewertung von Stromleitungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Vögel in der Slowakei beteiligt.

Mag. Eva Horková ist Kommunikationsmanagerin des LIFE Danube Free Sky Projekts. Sie studierte Politikwissenschaft und internationale und diplomatische Studien an der Comenius Universität Bratislava und an der Hochschule für internationale und öffentliche Beziehungen Prag, Institut Bratislava. Mehrere Jahre lang war sie hauptsächlich in den Bereichen Projektkoordination, Management und Marketing in der Privatwirtschaft tätig. Mit dem Wunsch nach einem beruflichen Wechsel in den dritten Sektor trat sie ab November 2020 dem LIFE Danube Free Sky Team bei.

Marietta Le – Ein Gesicht der neuen Stadtpolitik in Budapest

Seit 2019 wird die ungarische Hauptstadt von einem grün-liberalen Bürgermeister regiert. Wie sich der politische Wechsel in der Stadtverwaltung widerspiegelt, veranschaulicht der Politikwissenschaftler Tobias SPÖRI anhand der Veränderungskraft von QuereinsteigerInnen wie Marietta Le.

Seit den Lokalwahlen im Herbst 2019 hat sich einiges in der ungarischen Hauptstadt Budapest gewandelt. Der bis dahin regierende István Tarlós (Fidesz) wurde nach zwei Amtsperioden in einer knappen Wahl von Gergely Karácsony abgelöst. Karácsony trat als Spitzenkandidat einer »Anti-Fidesz«-Koalition an, die neben seiner grünen Partei »Dialog für Ungarn« auch eine Reihe an liberalen, grünen und sozialdemokratischen Parteien umfasst. Um einen erneuten Sieg von Fidesz zu verhindern, verzichtete sogar die extrem rechte Jobbik-Partei auf die Nominierung einer eigenen Person und trug somit zum Erfolg von Karácsony bei. Karácsony erzielte bei der Wahl 50,9 % der Stimmen. Amtsinhaber Tarlós landete mit 44,1 % auf dem zweiten Platz.

»Ein besseres, offeneres Budapest«

Parteiübergreifende Koalitionen gegen die auf nationaler Ebene regierende Fidesz sind im immer autoritärer werdenden Ungarn keine Seltenheit mehr. Vielmehr ist es bemerkenswert, was sich seit der Wahl 2019 in Budapest demokratiepolitisch getan hat. Die Stadt setzt nun vermehrt auf die Beteiligung der Bevölkerung und implementiert eine Reihe neuer demokratiepolitischer Projekte, wie etwa einen Klimarat oder einen BürgerInnenhaushalt. Mitangestoßen hat das Marietta Le. Sie ist seit Jänner 2020 die Beraterin des Bürgermeisters zum Thema politische Partizipation und leitet seit November 2020 auch die entsprechende Abteilung.

Ein Gesicht des Wandels

Marietta Le steht für eine neue Generation von Menschen, die seit der Wahl 2019 in der städtischen Verwaltung von Budapest arbeiten. Sie studierte Kommunikationswissenschaft an der Budapester ELTE-Universität sowie Soziologie und Sozialanthropologie an der Central European University, die mittlerweile von Ungarn nach Wien zwangsübersiedelt ist. Marietta Le hat keine klassische Karriere in der Verwaltung hinter sich, sondern ist als Quereinsteigerin in die Stadtverwaltung gekommen. Nach einer kürzeren Periode als Journalistin gründete sie 2012 das Online-Tool Járókelő (zu deutsch: FußgängerIn). Dieses ermöglicht der Bevölkerung Straßenschäden zu fotografieren und den Behörden umgehend zu melden. Durch diese Art der digitalen Beteiligung, auch Crowdsourcing genannt, können die BürgerInnen selbst dazu beitragen, Mängel in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu beheben. Zudem arbeitete Le auch in Großbritannien für Unternehmen, die auf ähnliche Aspekte sogenannter Schwarmintelligenz, digitaler Kommunikation und auf die direkte Zusammenarbeit von Bevölkerung und Behörden setzen.

Demokratische Innovationen in Budapest

Ihre Erfahrungen und Kompetenzen aus dem digitalen Aktivismus und der urbanen Stadtplanung setzt Le nun für die Stadt Budapest ein. Diese hat sich nach der Wahl 2019 das Ziel gesetzt, sich mehr um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern, deren Anliegen aktiv anzuhören und die Stadt generell »klimafit« zu machen. So ist es wenig überraschend, dass eines der ersten politischen Projekte des grünen Bürgermeisters die Errichtung von neuen Radwegen in der Stadt war. Dies war jedoch erst der Auftakt, um die Stadt für viele lebenswerter zu machen. Wenn Marietta Le über ihre Arbeit spricht, fällt oft der Begriff »partizipative Wende«, die sie stark selbst miteingeleitet hat. Um über die lokalen Auswirkungen des Klimawandels zu debattieren und auch Lösungsvorschläge zu finden, wurde ein Klimarat bestehend aus BewohnerInnen Budapests eingerichtet. Dafür versendete die Stadt 10.000 Einladungen an repräsentativ ausgewählte BewohnerInnen der Stadt. Von diesen meldeten 350 ihr Interesse an der Mitarbeit am Klimarat an. 50 Personen wurden schließlich von der Stadt ausgewählt. Gemeinsam debattierten sie dann Probleme und arbeiteten an Lösungen, so dass sich die Bevölkerung direkt an der Klimapolitik der Stadt beteiligen konnte. Ein zweites städtisches Projekt zur Förderung politischer Beteiligung bildet die Einrichtung eines Haushaltes für BürgerInnen. Dieser umfasst für die Jahre 2020 und 2021 eine Billion Forint, was etwa 2,76 Millionen Euro entspricht. Über diesen Haushalt können die BürgerInnen in gewisser Weise selbst verfügen: In einer Einreichungsphase gingen fast 700 Vorschläge von Seiten der Bevölkerung ein. Im Mai 2021 wurde dann über knapp 300 Vorschläge, die die Kriterien erfüllten, online abgestimmt. Viele Vorschläge betrafen städtische Infrastrukturprojekte wie öffentliche WCs, Zebrastreifen, Radwege und die Begrünung der Stadt.

Motivation für den Wandel

Marietta Le ist mit den bisherigen Erfolgen noch nicht zufrieden, viele weitere Projekte mit direkter Beteiligung der Bevölkerung sollen folgen. Die Unzufriedenheit liegt einerseits an der CoronaPandemie, die den Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, da sich die BürgerInnenräte physisch treffen sollten, um besser debattieren zu können. Anderseits ist Marietta Le unzufrieden, da sie noch viele Baustellen in der Stadtverwaltung sieht, wie beispielsweise die NutzerInnen-Freundlichkeit der Homepage der Stadt. Gemeinsam mit Bürgermeister Karácsony und der Stadtverwaltung verfolgt sie das Ziel, die Stadt weiter umzugestalten, neue Formate auszuprobieren und somit auch das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen. Dieses ist in vielen zentralund osteuropäischen Staaten geringer ausgeprägt als etwa in Österreich. Über die konkreten Auswirkungen der neuen Beteiligungsformate auf das Vertrauen der Bevölkerung kann das zuständige Team noch keine Auskunft geben, da die wissenschaftlichen Evaluationen noch laufen. Sie berichtet aber über viele positiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die freudig überrascht sind, sich an der Stadtpolitik beteiligen zu können und auch von der Stadt gehört zu werden. An Motivation und Ideen mangelt es Marietta Le nicht. Sie arbeite für die Menschen Budapests, betonte sie in einem Gastvortrag an der Universität Wien im April. Wer ihr zuhört, merkt, dass es sich in ihrem Fall um keine leere Floskel handelt.

Plattform für FußgängerInnen

Video-Aufzeichnung der IPW-Lecture »Budapest’s Vision of Citizen Engagement«. M. Le zu Gast am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien.

 

Dr. Tobias Spöri ist Mitglied der Forschungsgruppe Osteuropastudien der Universität Wien und lehrt am dortigen Institut für Politikwissenschaft zu Demokratisierung, politischer Partizipation sowie Zentralund Osteuropa. Er forscht zudem als Research Fellow am Berliner Think Tank d|part und ist in verschiedenen Projekten zu Demokratie und politischer Bildung aktiv.

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Wie sich Regierungen und Oligarchen Medien kaufen

„Wie sich Regierungen und Oligarchen Medien kaufen“ Daniela Neubacher, Daniel Martinek und Malwina Talik zur Medienlandschaft in der Region

Pegasus, eine mächtige Spionagesoftware, wurde in autokratischen Ländern als politische Waffe missbraucht. Jedoch auch manche demokratischen Staaten nahmen Regierungskritikerinnen ins Visier, darunter Ungarn und Polen.

Im Gastbeitrag für den Eastblog – Universität Wien und DER STANDARD erklärt unsere Kollegin Malwina Talik, was die Pegasus-Enthüllungen über den Stand der Demokratie in Polen sagen.

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IDM Short Insights 10: The Future of Hungary’s Fidesz in Europe

In March 2021 Viktor Orbán’s party Fidesz left the European People’s Party (EPP). What happened exactly and what can we expect next from the Central Eastern European right-wing party? Daniela Neubacher (IDM) comments on the recent conflicts about the future of Fidesz and explains what possible consequences this decision might have for the European Union.

Antiziganismus ist trotz Corona gesund und lebendig

Die Juristin Lilla FARKAS setzt sich für die Gleichberechtigung der Roma-Minderheit ein. In ihrem Kommentar prangert sie tiefgehende und folgenschwere Probleme in Ungarn an, weist aber auch auf blinde Flecken in der europäischen Debatte um Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte hin.

Romaphobie bzw. Antiziganismus ist sozusagen die letzte akzeptierte Form von Rassismus in Europa. Die Minderheit ist wenig bis gar nicht in den Nachrichten zu sehen, da sich der Kampf gegen die Coronakrise hauptsächlich auf politische Reaktionen konzentriert. In der Slowakei und in Rumänien war lediglich die Schließung infizierter Roma-Viertel eine Nachricht wert, die zeigt, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen. Die Instrumente der Virus-Eindämmung folgen dabei dem Muster jahrhundertelanger räumlicher Segregation und sozialer Ausgrenzung der Minderheit. Ob die Gesundheitsmaßnahmen die imaginären, oft aber auch sehr realen Mauern um die RomaViertel überwinden, wird nicht berichtet. Die Romnja und Roma werden im Kampf gegen das Virus und die wirtschaftliche Not nach der Krise alleingelassen. Die Mehrheit ist auf dem Schwarzmarkt beschäftigt, was zur Folge hat, dass selbst die halbherzigen und viel kritisierten Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft wenig Wirkung auf sie haben werden. Eine gezielte Unterstützung wäre notwendig, aber wie so oft profitiert die Minderheit nicht von sozialen Förderungen. Vielmehr befürchten ExpertInnen und AktivistInnen, dass die Wirtschaftskrise nach dem COVID unweigerlich zu einer weiteren Verschlechterung ihrer sozioökonomischen Lage führen wird.

©XKK Communication Agency

Roma-feindliche Kampagnen

Antiziganismus ist in Ungarn so weit verbreitet, dass die Krise den ungarischen Romnja und Roma sogar kurz zu Gute kam, indem sie die skrupellosen Sündenbock-Kanonen der Regierung Orbán auf einen idealen Feind, ein unbekanntes ausländisches Virus, lenkte. Ende Februar stellten die von der Regierung geförderten Medien die jüngste romafeindliche Kampagne ein, die im Anschluss an einen Entschädigungsfall geführt worden war. Die Gerichte hatten 60 Kindern eine Entschädigung von einer Million Forint (knapp 3000 Euro) für die segregierte und schlechtere Bildung zugesprochen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 wurde der Fall Gyöngyöspata von der Fidesz-Partei genutzt, um erneut den inneren Feind ins Visier zu nehmen. Der politisch lukrativen Fremdenfeindlichkeit ging nämlich die Luft aus. Es folgte eine dreimonatige Pause mit dem Kampf gegen die erste Welle des Coronavirus. Die Regierung gewann glorreich, indem sie die Saat einer von der Regierung initiierten und auf Erlassen beruhenden Gesetzgebung säte und die lokale Regierung mit obligatorischen »Solidaritätsbeiträgen« fesselte, die die lokalen Haushalte leerten, während sie die Lasten der Steuereinziehung und der sozialen Versorgung den von der Opposition kontrollierten Städten überließ. Vor kurzem ist die Fidesz-Regierung jedoch wieder zum Minderheitenthema zurückgekehrt. Der alt-neue Ansatz besteht darin, die Unterdrückung der Romnja und Roma weiter zu verankern. Daher zielt die Kampagne auf Schulen ab. Sie gelten als der einzig verbleibende physischer Raum, den sich die Minderheit und die Mehrheitsgesellschaft immer noch teilen. 60–70 % der Romnja und Roma sind in Bezug auf Wohnen, Arbeit und sogar Gesundheitsversorgung, wie etwa in Entbindungsstationen, segregiert. Sie kaufen im »RomaViertel« ein, denn sobald sie diese verlassen, werden sie von der Polizei strengstens überwacht, was zu einer unerträglichen Anzahl von Kontrollen und Geldstrafen führt.

Schulen im Fokus

Die Regierung ist bestrebt, die Polizeiarbeit auf problematische Schulen auszuweiten, in denen Kinder, die Angehörige der Minderheit sind, überrepräsentiert sind. Es geht darum, ihnen die Familienbeihilfe zu entziehen, wenn sie Ärger machen, und ihnen das Recht auf zivilrechtlichen Rechtsbehelf zu verweigern, sollten sie den Mut aufbringen, vor Gericht Gerechtigkeit zu suchen. Ein Fidesz-Abgeordneter, der sich einen Namen gemacht hat, indem er die Roma-Gemeinschaft in Gyöngyöspata in den Medien schikanierte, wurde vom Premierminister ernannt, um das Problem von Schultrennungen zu Beginn der Coronakrise zu lösen. Der Direktor der lokalen Schule wurde für das Schlagen von Kindern strafrechtlich verfolgt. Ungeachtet dieser Tatsache setzte sich der Politiker für eine Schulpolizei ein. Seine Vision steht in krassem Gegensatz zu der von Minneapolis, wo Schulbezirke nach der antirassistischen Mobilisierung Verträge mit der Polizei auflösten. In den USA wurden die Proteste dadurch ausgelöst, dass die Trump-Regierung nicht auf die verheerenden Auswirkungen des Coronavirus und des institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei reagierte. Obwohl die Roma-Gemeinschaft von Gyöngyöspata und ihre SympathisantInnen gegen den Rassismus der Regierung und den damit verbundenen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz protestierten, ist die Mobilisierung an der Basis schwach.

Im Schatten des EU-Rechts

Öffentliche Debatten in der Europäischen Union konzentrieren sich auf die jüngsten illiberalen Angriffe auf den ungarischen Rechtsstaat und die oppositionellen Kräfte, während Bedenken zu Minderheitenrechten weitgehend unbemerkt bleiben. Zwar hat die Coronakrise das Antiziganismus-Paradigma nicht verändert, aber man könnte berechtigterweise argumentieren, dass es auch das illiberale Paradigma nicht grundlegend verändert hat, sondern lediglich neue Waffen in das Arsenal ihrer Akteure aufgenommen hat. Das Rezept bleibt dasselbe. Im Fall Gyöngyöspata sah der jüngste Vorschlag zur Änderung des Gesetzes über das nationale Bildungswesen vor, sich auf die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse zu berufen. Das Gesetz sollte als Grundlage dafür dienen, künftig keine Entschädigungszahlungen für moralische Schäden, die SchülerInnen zugefügt wurden, zu bezahlen. Vielmehr sollten RichterInnen stattdessen eine Entschädigung in Form von Sachleistungen anordnen. Es ist unnötig zu sagen, dass die Richtlinie die Mitgliedsstaaten verpflichtet, eine Entschädigung zur Verfügung zu stellen, während sie natürlich wirksamere, verhältnismäßigere und strengere Rechtsmittel erlaubt. Der Vorschlag übersieht somit die Verpflichtung der EU-Mitglieder, indem er vorgibt, dem EU-Recht damit angeblich nachzukommen. Der Gesetzesvorschlag stimmt keinesfalls mit dem Zweck der EU-Richtlinie und dem Verfahren überein, auch wenn er auf dem Papier ordentlich aussieht. Erstens: Warum schlägt nicht das Bildungsministerium, sondern ein Abgeordneter vor, die entsprechende Gesetzgebung zu ändern? Es sei denn, er will eine öffentliche Konsultation (eine Form der politischen Umfrage in Ungarn) vermeiden, die nur dann obligatorisch ist, wenn der Vorschlag auf Initiative des Ministeriums erfolgt. Zweitens: Warum wird die Entschädigung für moralische Schäden im Bildungsgesetz und nicht im Zivilgesetzbuch geregelt, wo die Frage doktrinär hingehört? Es sei denn, man wolle verschweigen, dass die vom Fall Gyöngyöspata inspirierte Änderung die einzige Ausnahme der einschlägigen Bestimmungen darstellt. Drittens: Was geschieht mit der Art des moralischen Schadens, der nicht, wie im Vorschlag vorgesehen, mit Sachleistungen kompensiert werden kann? Der Vorschlag zielt offen auf die Roma-Minderheit ab und könnte somit das erste eindeutige »Anti-Zigeuner-Gesetz« der Regierung Orbán werden. Wir sollten nicht zulassen, dass der Fokus auf Corona und der Frontalangriff auf die Rechtsstaatlichkeit die Aufmerksamkeit von der Tatsache ablenkt, dass hier ein rassistisches Gesetz im Entstehen ist. Ein Gesetz, das ungarische BürgerInnen offen in einen sekundären Status verbannt, indem es ihnen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis den Zugang zur Justiz verwehrt.

 

Lilla Farkas ist seit 1998 Mitglied der Budapester Anwaltskammer. Sie hat für verschiedene Menschenrechts-NGOs in den Bereichen Asyl, Einwanderung, Strafjustiz und Diskriminierung gearbeitet und war zwischen 2004 und 2014 an Rechtsstreitigkeiten zur Aufhebung von Segregation beteiligt. Aktuell ist Farkas leitende Rechtspolitikanalystin für die Migration Policy Group, wo sie seit 2005 als Koordinatorin des europäischen Netzwerks von RechtsexpertInnen für Geschlechtergleichstellung und Nichtdiskriminierung tätig ist. Sie besitzt einen LLM vom King‘s College (London), einen Doktortitel in Rechtswissenschaften vom EUI und einen Doktortitel vom Europäischen Hochschulinstitut.

 

Farkas, Lilla: The EU, Segregation and Rule of Law Resilience in Hungary, Verfassungsblog.de, 2020/3/08.